Weltweit 15 Millionen Tote mehr als erwartet – so lautet die aktuelle Schätzung der WHO zu den Pandemiejahren 2020 und 2021. Eine fantasievolle „Theorie“ zur Übersterblichkeit kommt von der AfD.
Im Mai diesen Jahres sorgte eine WHO-Studie zur globalen Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie für Aufsehen. Insbesondere bei der Analyse europäischer Länder wie Deutschland und Schweden kam es zu Ungereimtheiten: Waren in Deutschland in den beiden Pandemiejahren 2020 und 2021 wirklich 195.000 mehr Menschen gestorben als erwartet worden war? So hatte es die WHO in ihrer Studie zumindest berechnet.
Schnell traten Kritiker auf den Plan, da man davon ausging, dass Deutschland die Pandemie besser verkraftet hatte als einige andere Länder Europas, die nach der WHO-Schätzung im Vergleich aber eine viel niedrigere Sterblichkeitsrate aufwiesen. Die WHO reagierte schnell und kommunizierte ihren Fehler offen: Es wurde im verwendeten Modell wohl nicht ausreichend berücksichtigt, dass es 2018 aufgrund der starken Grippewelle eine hohe Zahl an Todesfällen gab und der Wert im folgenden Jahr eher niedriger ausfiel. Deswegen habe sich das Modell zu sehr an den Zahlen von 2019 orientiert, anstatt einen mittelfristigen Trend wiederzugeben. Dieser Umstand macht schon deutlich, wie kompliziert es ist, die Übersterblichkeit in einem einzigen Land zu quantifizieren. Warum sollte man trotzdem versuchen, die Übersterblichkeit auf der globalen Skala zu erfassen? Immerhin lassen sich nur so die Auswirkungen der Pandemie und die dagegen getroffenen Maßnahmen – zumindest annäherungsweise – einordnen.
Die Autoren der WHO-Studie haben ihre Analyse-Methoden jetzt verfeinert und liefern in ihrer Nature-Studie neue Zahlen, auch für Deutschland. Statt 195.000 Toten mehr, schätzen die Forscher die Zahl jetzt auf 122.000 vorzeitig Verstorbene bei 83 Millionen Einwohnern während der zwei Pandemiejahre 2020 und 2021.
Schweden war das zweite Land, um das es im Zusammenhang mit der ursprünglichen Analyse Diskussionen gab. Hier wurde die Überstreblichkeit nur dezent, von 11.300 auf 13.400, bei einer Bevölkerung von 10 Millionen, nach oben korrigiert. Der emotionale Deutschland-Schweden-Vergleich, ein Leitmotiv der Diskussionen um Querdenker während der Pandemie, endet demnach so: Beide Länder schnitten, was die Übersterblichkeit während der Pandemie bis einschließlich 2021 angeht, in der Gesamtschau ähnlich ab, mit gewissen Vorteilen für Schweden.
Auf der ganzen Welt habe es insgesamt 14,83 Millionen mehr Todesfälle gegeben als erwartet. Diese Zahl war 2,74 Mal höher als die offiziell gemeldete Zahl der COVID-19-bedingten Todesfälle. Die sogenannte Übersterblichkeit gilt übrigens als Goldstandard für die Schätzung der Sterblichkeit während eines kurzfristigen Ereignisses (z.B. Naturkatastrophen oder Pandemien). Sie ist definiert als die Differenz zwischen allen beobachteten und erwarteten Todesfällen in einem bestimmten Zeitraum.
Am stärksten von der Übersterblichkeit betroffen waren demnach Länder mit mittlerem Einkommen. In den Ländern Südamerikas war die beobachtete Sterblichkeit teilweise doppelt so hoch wie erwartet. In Ländern mit niedrigem Einkommen gab es hingegen weniger Todesfälle. Das liegt laut der Autoren aber vor allem daran, dass sie nur 9 % der Weltbevölkerung ausmachen und im Durchschnitt eine jüngere Bevölkerung haben als Länder mit höherem Einkommen.
Die Ergebnisse der Studie müssen aber mit extremer Vorsicht interpretiert werden. „Die Berechnung einer globalen Übersterblichkeit ist insbesondere deshalb kompliziert, weil es für viele Länder keine verlässlichen Daten zu Sterbefällen vor und während der Pandemie gibt“, erklärt Prof. Christoph Rothe, Leiter des Lehrstuhls für Statistik an der Universität Mannheim.
Die Autoren selbst machen auf diese Limitation aufmerksam. Immerhin haben nur knapp ein Drittel der untersuchten Länder überhaupt vollständige Daten über die Zahl der Menschen vorweisen können, die in 2020 und 2021 an einer beliebigen Ursache gestorben sind. Hinzu kommt, dass viele Todesfälle durch COVID-19 nicht in offiziellen Berichten erfasst sind, etwa wegen fehlender Testkapazitäten oder falsch angegebener Todesursachen. Außerdem werden Todesfälle in verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich erfasst.
„Die Autoren schätzen diese Werte daher mithilfe statistischer Verfahren aus den Daten vergleichbarer Länder mit besserer Informationsbasis“, so Prof. Rothe. Die sich aus dem Verfahren ergebende globale Übersterblichkeit von etwa 14,8 Millionen Todesfällen sei daher zwar mit einer gewissen Unsicherheit verbunden, solle aber von der richtigen Größenordnung sein.
Trotz der vielen Unsicherheiten hält auch Jonas Schöley, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Population Health Lab vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, die Untersuchung insgesamt für solide. Das Modell der WHO bezeichnet er als „State of the Art“, das nach den jetzigen Korrekturen „zuverlässig die Übersterblichkeit in Ländern mit gut ausgebauten demografischen Meldesystemen“ messen kann – das schließe Europa, Nordamerika, Australien, Neuseeland und Teile Asiens und Südamerikas ein.
„Die durch COVID-19 verursachte Übersterblichkeit ist in ihrer Höhe und in ihrem globalen Ausmaß einzigartig in den letzten 70 Jahren“, meint Schöley. „Dies können wir auch an Rückgängen in der Periodenlebenserwartung für die Jahre 2020/21 sehen, die in solch einem Ausmaß wie seit Februar 2020, zumindest für Westeuropa und die USA, in der Nachkriegszeit nicht beobachtet wurde.“
Mit Blick auf Europa, wo die Datenlage vergleichsweise gut ist, macht die Studie der WHO auch wieder einmal deutlich, dass die Pandemie die bestehenden Unterschiede in der Bevölkerungsgesundheit verschärft hat: So haben die skandinavischen Länder mit einer ausgezeichneten Gesundheitsversorgung und hoher Lebenserwartung eine vergleichbar geringe Übersterblichkeit erfahren. Osteuropa war mit seiner vergleichsweise geringeren Lebenserwartung in den Jahren 2020/21 von einer anhaltend hohen Übersterblichkeit geplagt. Schöley: „Unter anderem spielen auch Unterschiede in den Impfquoten – hoch in den skandinavischen Ländern, niedrig in Osteuropa – eine Rolle in diesen unterschiedlichen Resultaten.“
Apropos Corona-Impfungen. Die AfD lieferte diese Woche eine ganz besondere Theorie für einen vermeintlichen Anstieg der Todesfälle in Deutschland im Jahr 2021. Der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion, Martin Sichert, hatte in dieser Woche Daten vorgestellt, die er bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eingeholt hatte. Ihm zufolge kam es im ersten Quartal 2021 zu deutlich mehr Sterbefällen, unter anderem „plötzlich eingetretenem Tod“, der im Diagnoseschlüssel als R96.0 bezeichnet ist. Das könne nur mit den Corona-Impfungen zusammenhängen, die ab diesem Zeitpunkt bevölkerungsweit verabreicht worden waren.
Das Ganze führte zu einem enormen Aufruhr insbesondere auf Twitter, wo der Querdenker-Hashtag #plötzlichundunerwartet trendete. Die KBV antwortete prompt: „Aufgrund der von der KBV an die AfD übermittelten Abrechnungsdaten bzw. ICD-10-Codes lassen sich keine Kausalzusammenhänge zwischen COVID-19-Schutzimpfungen und Todesfällen herstellen", heißt es in einer Pressemitteilung. Und weiter: Bei den dargestellten Zunahmen der Todesfälle in 2020/21 handele es sich größtenteils um eine pandemiebedingte Übersterblichkeit. „Dies verdeutlicht nochmals die Bedeutung der COVID-19-Schutzimpfung als wirksame Maßnahme zur Verhinderung von schweren Verlaufsformen bis hin zu Todesfällen. Ohne die Impfung wäre die Übersterblichkeit wahrscheinlich weit höher gewesen“, heißt es in der Mitteilung.
Tatsächlich war diese erste Reaktion offensichtlich genauso falsch wie die AfD-Interpretation der Daten. Zwar gab es in besagtem Zeitraum eine Übersterblichkeit. Das ist es aber nicht, was die KBV-Zahlen zeigen – darauf deutet zumindest eine Erklärung hin, die das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) mit etwas Verzögerung lieferte. Die Daten seien einfach falsch interpretiert worden. Angefragt worden seien im ersten Schritt Daten von GKV-Versicherten, bei denen im Jahr 2021 eine Impfnebenwirkung codiert wurde. In einem zweiten Schritt wurden für diese Patienten alle Codierungen von 2016 bis 2021 angefragt. Und in einem dritten Schritt wurden für alle übrigen Versicherten die entsprechenden Codierungen abgefragt.
Das ZI erläuterte nun, dass sich sämtliche abgefragten Codierungen auf Versicherte beziehen, die 2021 wenigstens einmal beim Arzt waren und entsprechend nicht vor 2021 gestorben sein können. Das alleine würde den scheinbar sprunghaften Anstieg der plötzlichen Todesfälle vom vierten Quartal 2020 auf das erste Quartal 2021 erklären. Natürlich stellt sich bei dieser Erklärung der Zahlen die Frage, wo die (wenigen) Toten in den Vorjahren herkommen. Das ZI sagt, dass es sich nur um Fehlcodierungen handeln könne. Denkbar wäre freilich auch Abrechnungsbetrug. Beides hätte aber mit der ursprünglichen AfD-Interpretation nichts zu tun.
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