Erwachsene mit ADHS haben häufig auch andere Erkrankungen. Bei mehr als 80 Prozent der Patienten liegt eine psychiatrische Komorbidität vor. Diese Begleiterkrankungen machen es schwer, den Patienten richtig zu behandeln. Was raten Psychiater, Neurologen und Psychologen?
Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) haben häufig auch andere Erkrankungen. DocCheck sprach mit Psychiatern, Neurologen und Psychologen, die Experten auf dem Gebiet der ADHS sind. Einer davon ist Bernhard Kis. Er ist stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen. „ADHS bei Erwachsenen ist mit einer Vielzahl an komorbiden psychiatrischen Störungen assoziiert“, sagt er. „Bei mehr als 80 Prozent der Patienten liegt eine begleitende psychiatrische Komorbidität vor, welche das Management hinsichtlich Erkennung, Diagnosestellung und Behandlung erschwert.“ Dazu zählen affektive Erkrankungen wie depressive Erkrankungen, Anpassungsstörungen, Angststörungen, Substanz- oder Persönlichkeitsstörungen. ADHS gilt als prototypisches Störungsbild mit sehr heterogenem klinischen Erscheinungsbild. „Man sagt, ADHS ist nicht gleich ADHS“, erklärt der Psychiater und Neurologe Kis.
Ein weiterer Experte ist der Psychologe Christian Mette. Er leitet seit 2014 die Forschungsgruppe ADHS bei Erwachsenen am LVR-Klinikum Essen. Er sagt, es gebe eine Verbindung zwischen diesen Störungen. Am LVR-Klinikum hätte eine Studie ergeben, dass das serotonärge System bei ADHS in Mitleidenschaft gezogen sei, erklärt er. Zudem gebe es scheinbar eine genetische Prädisposition für ADHS und komorbide psychische Störungen. „ADHS ist unabhängig von der Lebensphase, in der die Störung erkannt und behandelt wird, eine Erkrankung mit hoher familiärer Häufung“, betont auch Kis. Sowohl genetische Zusammenhänge als auch verschiedene Umweltfaktoren seien mit dem Störungsbild in großen Kohorten assoziiert: „Eine Zwillingsstudie zeigte erstmalig einen engen Zusammenhang zwischen ADHS und emotionalen Störungen bei Vorschulkindern, der hauptsächlich durch genetische Ursachen erklärt wird. Bei Erwachsenen fehlen derzeit vergleichbare Studien, die eine Übertragung auf den Erwachsenenbereich erlauben.“ Die Ärztin Alexandra Lam arbeitet mit Patienten, die sowohl unter einer ADHS als auch unter einer BPS leiden. Auch der Zusammenhang zwischen ADHS und einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) wird mit einer genetischen Veranlagung in Verbindung gebracht: „Bei der diagnostischen Abklärung sollte immer auch eine Familienanamnese erhoben werden, da ADHS eine hohe Erblichkeit besitzt“, sagt Alexandra Lam, Ärztin an der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Oldenburg. Auch bei der BPS allein gehe man von einer erblichen Komponente aus: „Die jeweilige Störung muss sich aber in der nächsten Generation nicht zwangsläufig ausprägen. Eine Verbindung beider Störungen zueinander auf genetischer Ebene kann auf Grundlage der derzeit vorhandenen Studien nicht klar abgeleitet werden.“ Für das Auftreten von BPS als auch von ADHS werde eine multifaktorielle Ätiopathogenese angenommen, sagt Lam: „Das bedeutet, dass bei beiden Erkrankungen eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielen. Hierzu zählen sowohl erbliche als auch umweltbedingte Einflüsse.“ Umweltbedingungen würden als wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen betrachtet, so die Ärztin weiter. So könne, wenn zum Beispiel der Umgang mit einem Kind traumatisierend und auch die sonstigen Bedingungen im Leben des Kindes ungünstig seien, die Pathogenese einer BPS getriggert werden.
„Zudem deuten Ergebnisse aus Studien an, dass eine schwere ADHS in der Kindheit die Vulnerabilität für die Entwicklung einer BPS erhöhen könnte“, erklärt Lam. „Es gibt auch Hinweise darauf, dass das Umfeld einen Einfluss auf die Schwere einer komorbiden BPS bei ADHS-Patienten haben könnte. Aus einer retrospektiven Untersuchung von Ni & Gau aus dem Jahr 2015 ging unter anderem hervor, dass eine geringe mütterliche Fürsorge bei Jungen mit ADHS mit stärkeren Symptomen einer Borderline-Störung assoziiert war.“ Aus diesem Grund seien auch Erziehungsstile von Kindern mit ADHS und/oder BPS in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. „Die Erziehung eines Kindes mit ADHS stellt Eltern vor besondere Herausforderungen", sagt Alexandra Philipsen, Klinikdirektorin der Uniklinik Oldenburg. Aufgrund der erblichen Komponente der ADHS liege eine erhöhte Wahrscheinlichkeit vor, dass mindestens ein Elternteil selbst betroffen sei: „In diesem Fall kann dies dazu führen, dass der Erziehungsstil weniger effektiv ist, beispielsweise wenn die Eltern, durch ihre ADHS bedingt, weniger konsequent oder gar impulsiv sind.“ Eine 2015 veröffentlichte Studie beweise, dass hier bestimmte Eltern-Kind-Trainings positiv auf das Outcome der Eltern wie auch des Kindes einwirken würden.
„Klinisch hat man meist zunächst aus diagnostischen Gründen mit beiden Störungsbildern BPS und ADHS gleichzeitig zu tun“, sagt Lam. „Da es eine Überlappung im Symptomspektrum gibt, kann die Differenzierung erschwert sein. Es gibt aber auch einen gewissen Anteil an Patienten mit BPS unter den ADHS-Patienten und umgekehrt.“ In Studien variiere dieser Anteil stark je nach untersuchter Population, doch eine mögliche Komorbidität sei von klinischer und therapeutischer Relevanz, so Lam: „Andere Studien deuten darauf hin, dass beim Vorliegen beider Störungen das Risiko für weitere psychische Erkrankungen erhöht sein kann.“ „Als Erstes muss die ADHS nachgewiesen werden, dann kommt alles andere“, sagt der Psychologe Christian Mette. „Das Problem ist, dass die Kernsymptome der Unaufmerksamkeit, Unruhe und Impulsivität bei fast jeder psychischen Störung in irgendeiner Art und Weise gegeben sind“, sagt Psychologe Christian Mette. Um die richtige Störung zu diagnostizieren, müssten also die richtigen Ursachen gefunden werden: „Wir nehmen uns Zeit für unsere Klienten und diagnostizieren die Störungen getrennt voneinander nach der gängigen Norm. Danach schauen wir, ob und wo es einen Zusammenhang gibt und was im Vordergrund steht, um in die Behandlung zu gehen.“ Zunächst gelte es, die ADHS nachzuweisen, so Mette: „Wenn die ADHS sauber diagnostiziert worden ist, kann man auch die anderen Störungen diagnostizieren. Aber davon hängt es ab.“ Die Symptomatik müsse in der Kindheit nachgewiesen werden. Zum Einen geschehe dies durch Gespräche mit Klienten und Angehörigen, in denen das Verhalten und die Probleme in der Kindheit beschrieben würden. „Zum Anderen versuchen wir, den Abruf von Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu verbessern und mögliche Störvariablen und Verzerrungen beim Erinnern zu kontrollieren“, so Mette.
Von der Entwicklung der ADHS-Diagnostik aus betrachtet, hätten Menschen, die vor rund 15 Jahren und früher geboren wurden, keine Behandlung bekommen, sagt der Psychologe. Es könne durchaus sein, dass sie aufgrund von Misserfolgserlebnissen in ihrem Leben eine Depression entwickelt hätten. Kis wiederum weist darauf hin, dass der Blick auf die ADHS verdeckt sein könne: „Die Symptomüberlappung zum Beispiel durch eine Depression kann eine Unterdiagnostizierung und -behandlung verursachen“, sagt er. Patienten mit einer ADHS erlebten in ihrer Biografie Fehlschläge aufgrund der kognitiven Defizite, vor allem durch die Konzentrationsprobleme. Diese hätten Auswirkungen auf den schulischen, beruflichen aber auch privaten Alltag, was das Risiko für die Entwicklung einer Depression erhöhe. Dabei könne sowohl die ADHS als auch eine komorbide Depression familiär gehäuft auftreten, sagt Kis. „Meist empfiehlt der Kinder- oder Jugendpsychiater dann, sich als bisher nicht diagnostizierter Elternteil beim Fachmann bezüglich einer ADHS-Abklärung vorzustellen.“ Die Behandlung beider Erkrankungen muss aufeinander abgestimmt sein, sagt der Göttinger Arzt Bernhard Kis.
Als Therapie gelte bei der ADHS plus komorbider Depression das multimodale Behandlungsprinzip, so Kis, also der Einsatz pharmakologischer, psychotherapeutischer und komplementärer Behandlungsmaßnahmen. „Eine zentrale Frage ist die der Behandlungshierarchie, ob zuerst die ADHS oder erst die Depression behandelt werden soll“, sagt er. „Man sollte beachten, dass bestimmte Antidepressiva wie dual wirksame Antidepressiva oder Trizyklika auch einen Effekt auf die ADHS haben, umgekehrt wirkt Methylphenidat nicht antidepressiv, kann aber bestimmte depressive Domänen, wie emotionale Verarbeitung oder Apathie positiv beeinflussen.“ Depression und BPS sind jedoch bei weitem nicht die einzigen komorbiden Erkrankungen einer ADHS. „Substanzstörungen müssen, zum Beispiel, auch beachtet werden“, sagt Mette. „Hier überwiegen Alkohol, Cannabis und Amphetamine. Angst- und Essstörungen sind vergleichsweise selten. Alkohol wirkt dämpfend, damit kann man die Hyperaktivität ein bisschen abmildern und Cannabis wirkt ähnlich. Das sehen wir vor allen Dingen bei den jungen Erwachsenen.“ Bei der Sucht gebe es verschiedene ähnliche Marker, so der Psychologe, etwa die Impulsivität: „Sie tritt sowohl in der Gruppe der Patienten mit ADHS als auch in der Gruppe der Patienten mit Abhängigkeit auf.“
In die ADHS-Ambulanz kämen zudem überdurchschnittlich häufig Menschen mit einer narzisstischen Grundstruktur, so Mette. „Sie haben anhand ihrer Biographie häufig die Annahme erworben, ein Versager zu sein und in Beziehungen abgewertet zu werden. So versuchen die Klienten häufig, Erklärungen für Misserfolge zu finden.“ So etwas könne auftreten, müsse aber nicht, sagt Mette: „Manche Patienten haben nur eine ADHS. Aber wenn eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur bei einer ADHS vorhanden ist, dann lohnt es sich, zu schauen, ob und wodurch dies entstanden ist. Häufig sind es Misserfolge in der Schule, im Beruf, in der Familie, in der Interaktion mit anderen Menschen. Bei einer interaktionellen Familienstruktur kann das zu einer Verstärkung der Probleme führen und die Störungen aufrecht erhalten.“ Darum sei es bei Persönlichkeitsstörungen erforderlich, diese verhaltenstherapeutisch mit zu behandeln. Dies bestätigt auch Lam für die BPS und fügt hinzu: „Für die therapiebedürftige ADHS im Erwachsenenalter ist laut Leitlinien eine Behandlung mit Stimulantien die erste Wahl.“ Dies seien Methylphenidat-haltige Medikamente. „Man kann beide Störungen nie voneinander getrennt sehen“, so Mette, „man muss sie immer gemeinsam im Blick haben und auch gemeinsam behandeln.“ All diese Feinheiten und Zusammenhänge im hausärztlichen Bereich zu diagnostizieren und zu behandeln, sei sicher schwierig, sagt der Psychologe: „Patienten mit solchen Problemen gehen nicht unbedingt zum Hausarzt. Psychische Störungen sind immer noch stigmatisiert. Ich würde einem Hausarzt immer raten, einen Psychiater mit ins Boot zu holen oder sich an eine der Spezialambulanzen zu wenden.“