Irgendwann ist die Medizin in Deutschland zur Dienstleistung mutiert. Das spüren wir Ärzte an Auflagen zur Wirtschaftlichkeit – und an rüpeligen Patienten, die uns nur als Rezept-Automaten sehen. Das muss sich ändern!
„So geht man mit Kunden nicht um!“ Mit diesen Worten stürmte vor Kurzem eine Patientin aus dem Behandlungszimmer. Grund der Eskalation: Ich hatte ihr gesagt, dass ich ihr keine Rücken-Physiotherapie ohne weitere Diagnostik mehr geben könne. Die Kollegin hatte ihr drei Wochen zuvor nach ca. 1 Woche Rückenschmerzen (und einem Besuch beim Orthopäden am Ferienort, der ein Röntgen der LWS durchgeführt hatte) das erste Rezept gegeben. Ich hatte jetzt versucht, ihr zu erklären, dass aufgrund des längeren Verlaufs doch nochmal eine Untersuchung mit Labor und bei weiter wirklich starken Schmerzen auch ein MRT sinnvoll sind. Das wollte sie aber schlichtweg nicht.
Mir begegnet diese Einstellung immer mal wieder – „Rezept ausstellen und Klappe halten“ (ich schrieb hier und hier darüber)–, aber gefühlt nimmt sie in den letzten Jahren immer weiter zu.
Dabei ist das Ganze ein schwieriger Balance-Akt: Nein, ich sehe mich nicht als Halbgott in Weiß, der immer am besten weiß, was seine Patienten brauchen. Meine Kollegin sagt immer so schön: „Der Patient ist der Experte für seinen Körper und seine Krankheit.“ Und das stimmt gerade bei Patienten, die sich intensiv mit ihrer Erkrankung auseinandergesetzt haben (z. B. Patienten mit Mukoviszidose oder rheumatischen Erkrankungen). Aber viele wollen sich auch gar nicht mit ihrer Erkrankung beschäftigen. Und können bestimmte Wechselwirkungen und Konsequenzen auch nicht so ohne Weiteres abschätzen.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein männlicher Patient Mitte bis Ende fünfzig fragt nach Sildenafil für seine Potenzprobleme. Sein Ziel: Möglichst schnell und diskret Hilfe bekommen, nicht viel drüber nachdenken müssen. Völlig verständlich und normal. Für mich gehen dann aber die Alarmglocken an, weil eine erektile Dysfunktion ein Risikofaktor bzw. Indikator für eine KHK ist. Also muss ich da doch mal nachhaken und dem Patienten klar machen, dass ich nicht mal eben die Tablette verschreiben kann, sondern wir parallel einmalig die kardiologische Abklärung machen müssen. Die Erfahrung zeigt: Wenn der Patient das Rezept erst einmal hat, geht er auch nicht mehr zur Abklärung hin („Ich hab das Medikament doch gut vertragen und vom Herzen merk ich nichts“). Also muss ich ihn ERST durch die Diagnostik schleusen und kann ihm DANN das Medikament geben (glücklicherweise macht das unsere jetzige lokale urologische Praxis auch so, falls der Patient es dann stattdessen da versucht). Im besten Fall versteht der Patient meine Vorsicht und findet sie gut, aber es gibt auch viele, denen das zu viel Aufwand ist.
Das Thema Aufwand kommt auch häufig zum Tragen, wenn es um die Frage geht, ob etwas noch ambulant zu verantworten ist oder der Patient stationär muss. Gerade bei Bauch-Entzündungen (Sigmadivertikulitis als klassisches Beispiel) KANN das klappen. Aber ich habe es auch mehrfach erlebt, dass Patienten partout nicht ins Krankenhaus wollten, obwohl es medizinisch sinnvoll gewesen wäre. „Muss das sein?“ Und egal, wie viel man dann aufklärt, wenn es am Ende schiefgeht, ist der Patient sauer auf den Arzt, der es ja hätte wissen müssen.
Damit entsteht ein großer Konflikt: Ärzte werden heute (auch aufgrund der Abrechnung und der DRGs) so ausgebildet, dass sie vor allem EIN (akutes) Problem behandeln sollen – und zwar „wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig“. Nein, nicht „gut“, sondern „ausreichend“. Dazu kommt eine immer weitere Spezifikation der Fachärzte, so dass sie auch nur noch ein Organ oder teilweise nur noch einen Aspekt eines Organs betrachten. Damit geht immer weiter der Blick für das große Ganze des menschlichen Körpers verloren.
Diese umfassendere Sichtweise sehe ich auch als eine zentrale Aufgabe des Allgemeinmediziners und Hausarztes – wir sind der Arzt für den ganzen Menschen. Aber dafür muss genau diese Expertise auch anerkannt werden. Und nein, es gibt nicht immer wirklich einen Konsens. Denn manchmal wollen Patienten Dinge verschrieben haben, die ich medizinisch nicht verantworten kann (z. B. Therapie ohne notwendige Diagnostik wie in den obigen Beispielen).
Da kommt dann wieder diese Kunden-Mentalität zum Tragen. Meiner Meinung nach (auch wenn es Kollegen gibt, die das anders sehen) bin ich nicht der Servicedienstleister, der unter allen Umständen den Wunsch seines Kunden erfüllen muss. Ich bin Ärztin und das heißt, dass ich auch der Advokat des Körpers sein muss, wenn der Patient diesen in seinem Wunsch nach Bequemlichkeit ignoriert – mit der möglichen Folge von dauerhaften Gesundheitsstörungen bis hin zum Tod.
Jetzt kann man sagen: „Tja, selbst schuld, müssen sich die Patienten halt kümmern.“ Auch das ist irgendwie richtig, aber dafür sind, glaube ich, die wenigsten von uns Ärzte geworden. Die meisten werden doch Ärzte, weil sie helfen wollen, weil sie genau diese Verläufe beim Patienten verhindern wollen. Und es hat ja auch zu Recht juristische Konsequenzen, wenn wir Dinge tun, die medizinisch nicht indiziert sind. Und die Patienten wollen auch einen Arzt, der sich um sie kümmert – aber dabei auch möglichst wenig ihren Alltag stört, wo dann meistens das Problem liegt.
Ich glaube, dass wir auch gesellschaftlich wieder stärker diskutieren müssen, wie das Arzt-Patienten-Verhältnis praktisch aussehen kann. Medizin und die eigene Gesundheit sind sicherlich etwas, wo jeder für sich selbst entscheiden muss, was er möchte. Aber es gibt eben auch Grenzen – und es ist meiner Meinung nach richtig, dass es bestimmte Dinge gibt, für die ein Arzt (!) und nicht der Patient selbst die Indikation stellen muss. Denn sonst ist das jahrelange Studium schlichtweg unnötig und man müsste konsequenterweise für diese Maßnahmen dann auch die Notwendigkeit einer ärztlichen Anordnung abschaffen. Nur ist das weder medizinisch sinnvoll, noch bezahlbar.
Wir Ärzte müssen wieder klarstellen, dass wir oft die Boten des Körpers und die Sachverständigen sind, auch wenn die Gefühle des Patienten dabei wichtig sind. Aber die Definition von Medizin als Dienstleistung, die sich gerade in der Gesellschaft breit macht, finde ich so nicht (er)tragbar.
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