Eine Gynäkologin soll über 130.000 Euro an die KV Bayerns zurückzahlen, sie liegt über dem Fachgruppendurchschnitt. Hintergrund: Sie betreut rund 5.000 genitalverstümmelte Frauen. Der Fall im Detail.
Dr. Eiman Tahir, Ihre Frauenärztin am Stachus, steht als Begrüßung auf der schlicht gestalteten Website einer Münchner Gynäkologin. Auf der Startseite ist sie selbst zu sehen, mit ernstem Lächeln steht sie am Empfang. Ein ärztlicher Internetauftritt wie viele. Ungewöhnlich ist dagegen Dr. Tahirs Video auf Instagram: „Ich soll ins Gefängnis, weil ich beschnittene Frauen behandle“, sagt sie darin. Warum? Die Antwort ist so einfach wie frustrierend bürokratisch – ihre Abrechnung entspricht nicht dem Fachgruppendurchschnitt der Gynäkologen. Allerdings mit gutem Grund: Von ihren etwa 8.000 Patientinnen sind ca. 5.000 genitalverstümmelt, ihre Betreuung ist aufwändig, kostet Zeit – und damit Geld. Geld, was die Krankenkassen, genauer die Körperschaften der Selbstverwaltung, offenbar nicht aufbringen möchten.
Die KV Bayerns fordert eine Rückzahlung in Höhe von 130.414,70 Euro von Tahir, dazu kommt noch eine Geldstrafe von 17.000 Euro, so der Verein innn.it auf Instagram, die Kampagnenplattform präsentiert den Hilferuf der Gynäkologin dort. Bei Nichtzahlung drohe ihr eine Haftstrafe. Selbst, wenn Tahir das geforderte Geld aufbringen kann, wäre das ihr finanzieller Ruin und sie müsste ihre Praxis schließen, heißt es im Spiegel.
Das Thema schlägt Wellen in den sozialen Medien, inzwischen wurden ein Spendenaufruf (längst übererfüllt und gestoppt) und eine Petition, die den Konflikt noch etwas grundsätzlicher angeht und mehr Aufmerksamkeit für genitalverstümmelte Frauen fordert, ins Leben gerufen. Warum greift hier nicht die Regelung der Praxisbesonderheit, die doch für genau solche Fälle wie geschaffen scheint? Liegt es daran, dass die Behandlung und Betreuung genitalverstümmelter Frauen eine KV-fremde Leistung ist?
Auf Anfrage der DocCheck News verweist die KBV lediglich an die KV Bayerns, die inzwischen bereits ein Statement – als Reaktion auf besagte Petition – veröffentlicht hat. Es ist auch dieses öffentlich zugängliche Statement, das uns als Antwort der Pressestelle dort erreicht. Es beginnt vielversprechend: „Die Arbeit der Frauenärztinnen und -ärzte, die Mädchen und Frauen nach einer Genitalbeschneidung bzw. -verstümmelung behandeln, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.“ Wie zu erwarten, folgt dann allerdings das große Aber.
„Dennoch lässt sich das Abrechnungssystem in der gesetzlichen Krankenversicherung, das im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) abgebildet ist, auch bei dieser sehr verantwortungsvollen Tätigkeit nicht außer Kraft setzen. Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte übernehmen mit ihrer Zulassung bzw. Ermächtigung für die vertragsärztliche Versorgung auch die Pflicht, sich an die gültigen Abrechnungsregeln zu halten. Voraussetzung für die Auszahlung von Honoraren ist eine korrekte Abrechnung unter Einhaltung der bundesweit gesetzlich vorgegebenen Bestimmungen in Bezug auf die Erbringung der ärztlichen Leistungen.“
Die auch in der Antwort auf unsere Nachfrage vertretene Position („die KVB kann zu Einzelfällen prinzipiell keine Stellungnahme abgeben“) findet sich dann ebenso im weiteren Verlauf des Statements:
„Aus Gründen des Sozialdatenschutzes können wir von Seiten der KVB aus nicht konkret auf Einzelfälle eingehen. Wir bieten aber allen unseren Mitgliedern, den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, umfassende Beratung im Bereich der Abrechnung und Prüfung an – mit dem Ziel, Rückforderungen der Krankenkassen möglichst zu vermeiden. Wichtig ist natürlich, dass die von Regressforderungen betroffenen Mitglieder der KVB auch offen für Beratung und bereit sind, Empfehlungen und Vorschläge im Praxisalltag umzusetzen.“
Ob entsprechende Beratungsgespräche oder -angebote an Tahir gingen, bleibt unklar. Der ebenfalls angefragte GKV-Spitzenverband vertröstet zunächst auf kommende Woche, meldet sich im Laufe des Tages (9. Dezember 2022) aber doch noch. Viel Neues ist leider nicht in der Antwort zu finden, eher drängt sich ein Eindruck der Verwirrung auf: „Leider können wir Ihre Anfrage nicht in der gewünschten Klarheit beantworten, da wir den angesprochenen Sachverhalt mit den vorliegenden Informationen nicht beurteilen können. Nach erster Recherche muss hier eine umfangreichere Verfahrensgeschichte vorliegen, die uns nicht bekannt ist. Bitte haben Sie Verständnis, dass wir vor diesem Hintergrund keine Einschätzung vornehmen können.“ Wir werden daraufhin wieder an die KV Bayerns verwiesen.
Eine Anfrage an Tahir selbst wurde bis Veröffentlichung (15:20 Uhr) nicht beantwortet. Allerdings ist heute, 12. Dezember 2022, auch der Stichtag, bis zu dem die geforderte Zahlung zu leisten ist, das dürfte Priorität haben. Im Spiegel-Beitrag wird unter anderem Christian Ude, früherer Oberbürgermeister Münchens, zitiert. Mehrere Frauen hätten sich an ihn gewandt, besorgt, dass ihnen und anderen Betroffenen nun „eine unverzichtbare psychosoziale und medizinische Hilfe verloren gehen könnte“ – und zwar ohne Aussicht auf Ersatz. Ude ergänzt: „Die Praxis von Dr. Tahir scheint mir in vielfacher Hinsicht mit ihrer Aufgabenstellung und ihrer Qualifikation unvergleichbar zu sein. Ein Verschwinden gerade dieser Praxis wäre nicht nur für die betroffenen Patientinnen, sondern auch in der öffentlichen Wirkung noch schlimmer.“ Dem ist wenig hinzuzufügen.
Was bleibt, sind Fragen. Warum Tahirs Praxis nicht unter besagte Besonderheitsregelung fällt, zum Beispiel. Wieso der GKV-Spitzenverband von der Sache laut eigener Aussage noch nichts mitbekommen hat, während die sozialen Medien überlaufen mit Diskussionen und ein bekanntes deutsche Blatt einen Artikel dazu bringt. Und wie es sein kann, dass auf eine so wichtige und richtige Aussage wie „Die Arbeit der Frauenärztinnen und -ärzte, die Mädchen und Frauen nach einer Genitalbeschneidung bzw. -verstümmelung behandeln, ist gar nicht hoch genug einzuschätzen“ im Deutschland des 21. Jahrhunderts dann doch noch ein Aber folgt.
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