Es wird zwar viel über die Missstände in der Pflege gesprochen, aber selten kommen Pfleger zu Wort. Wo meiner Meinung nach die Probleme liegen und was ich ändern würde.
Jeder hat schon davon gehört und doch scheinen Menschen außerhalb der Pflege nicht zu verstehen, was er genau bedeutet: Der Pflegenotstand. Wenn man sich in der Pflege umhört, kriegt man immer wieder Antworten wie: „Ich sage das schon seit 15 Jahren!“ und „Heute würde ich diesen Beruf nicht mehr ergreifen“. Ich möchte versuchen, euch ein möglichst vollständiges Bild vom Pflegenotstand zu geben: Was sind die Probleme? Wie sehen die Konsequenzen aus? Was kann man tun?
Erstmal ein kurzes Wort zu mir: Ich arbeite seit 2010 in der Pflege, habe verschiedene Häuser und Fachbereiche gesehen und bin unfreiwillig Teil einer Personengruppe, die zwar viel Verantwortung und angeblich ein gutes Ansehen in der Gesellschaft hat, jedoch ohne Lobby dasteht und als Spielball für Profite genutzt wird.
Meine Erfahrungen aus Krankenhaus, Pflegeheim und ambulantem Dienst geben mir ein ziemlich vollständiges Bild davon, wie die Qualität der Pflege wo durchgeführt wird, wieso es „gallische Dörfer“ gibt, in denen es trotzdem noch gut läuft und vor allem, woran das liegt. Durch meine Arbeit als Pflegedienstleitung und meiner Weiterbildung zum Wundexperten ICW habe ich auch in diese Nischen der Pflege hineinschnuppern können.
Reden wir nun erst einmal über die Probleme, die die Pflege aktuell hat, denn „Notstand“ klingt zunächst sehr drastisch.
In Teilbereichen sind wir bereits im Notstand angekommen, wie man auch aus den Medien hört: Notaufnahmen sind überfüllt und überlastet, Intensivbetten für Kinder gibt es kaum noch und auch aus den großen SARS-CoV-2-Wellen sind uns die fehlenden Beatmungsplätze noch präsent. All diese Berichte haben eines gemeinsam. Es wird gesprochen von „fehlenden Betten“ oder „Kapazitäten“. Was aber gemeint ist: Das Personal fehlt, um diese Stationen zu betreiben. Betten kann man bauen und liefern, die Gerätschaften zur Not leihen, das geschulte Personal aber wächst nicht auf Bäumen. Dazu reichen dann auch keine 3 Jahre Ausbildung, denn spezielle Therapien benötigen auch speziell darauf geschultes Personal. Zum Beispiel lernen Pflegefachpersonen standardmäßig nicht, mit einer ECMO umzugehen, da ihr Einsatz sehr spezifisch ist. Wenn also ein Bett nicht belegt werden kann, dann sind selten die fehlenden Geräte dafür verantwortlich.
Bei den oben genannten Medienberichten kratzen wir aber nur an der Oberfläche dessen, wo es aktuell überall hapert. Selbst auf den einfachen Pflegestationen, zum Beispiel im Pflegeheim, ist es aktuell schier unmöglich, an Fachpersonal zu kommen. Das hat zum einen mit dem weniger interessanten Arbeitsfeld zu tun, zum anderen auch mit der Bezahlung, denn die ist im Krankenhaus deutlich besser.
Diese Entwicklung wird sich in Zukunft noch zusätzlich verstärken, da die oft als „super“ präsentierte Generalistik in der Pflegeausbildung genau diesen Prozess beschleunigt. Als Politiker ohne Einblick in die Pflege macht es Sinn, Abläufe, die ähnlich oder gleich sind, zusammenzulegen, um die Ausbildung effektiver zu gestalten. Jedoch gibt es zwei essentielle Probleme: Zunächst haben wir in Deutschland neben Österreich und Luxemburg die niedrigsten schulischen Zugangsvoraussetzungen für Pflegeberufe im europäischen Raum. Das sorgt für einen höheren Praxisanteil als in anderen Staaten Europas, wie zum Beispiel Frankreich. Die Theorie – das Fundament, wenn es um die Professionalisierung der Pflege geht – bleibt da leider etwas auf der Strecke.
Auch mein Azubi äußert mir gegenüber, dass der Lehrplan extrem straff ist und viele Dinge überhastet bearbeitet würden, um diesem Plan gerecht zu werden. Informationen, die den Grundstein für weitere Transferleistungen legen sollten, werden mangels Zeit ausgelassen und sorgen damit für ein Qualitätsdefizit in der Theorie. Das sorgt, gepaart mit den speziellen Abschlüssen der Kinderkrankenpflege und Altenpflege, als Problem Nummer 2 dafür, dass wir ein Jahr der Ausbildung für eine Spezialisierung abgeben, die als Fachweiterbildung im Anschluss besser integriert wäre. Auszubildenden fehlt durch diese frühe Anpassung ihres Schwerpunktes ein Jahr an allgemeinem Wissen.
Was dieses Problem ebenfalls befeuert, ist die Notwendigkeit, Auszubildende als vollwertige Mitarbeiter einzusetzen, um die Mindestanforderungen an vorzuhaltendem Personal auf Station einzuhalten. Dabei werden sie nicht nur schon ausgebrannt, bevor sie ausgelernt sind, sondern sie erhalten auch keine Anleitungen, weil dafür keine Zeit bleibt. Es werden Einzelkämpfer herangezogen – Teamplayer bleiben auf der Strecke. Das erklärt am Ende auch, warum die Durchfallquote in der Pflegeausbildung von Jahr zu Jahr ansteigt.
Zudem spitzt sich der Konkurrenzkampf der Arbeitgeber zu: Krankenhäuser sind in der Pole Position, da sie besser bezahlen. Warum zahlen dann Pflegeheime nicht einfach besser, fragt ihr euch? Ganz einfach, weil sie es nicht können. Das liegt an der Art, wie in einem Krankenhaus Geld generiert wird. Die Einnahmen können durch Operationen oder Behandlungen gesteigert werden – je mehr und aufwändiger, desto mehr Geld nimmt das Haus ein.
Im Pflegeheim ist das nicht möglich. Dort gibt es eine Pauschale pro Monat für eine Person, die nur durch den Pflegegrad erhöht oder verringert werden kann. Allerdings ist dabei auch klar: Ein höherer Pflegegrad bedeutet automatisch, dass diese Person in der Versorgung aufwändiger ist und somit mehr Personal benötigt – ein Teufelskreis. Zwar haben Pflegeheime die Möglichkeit, die Kosten der Zimmer anzupassen, allerdings auf Kosten des zu Pflegenden. Jetzt schon müssen Pflegebedürftige mit einem Eigenanteil von ca. 2.000 € pro Monat rechnen; auf Einzelzimmer kommen je nach Haus nochmals monatlich 300–500 € drauf. Und aus dieser „Flatrate“ zahlt sich dann nicht nur das pflegerische Personal, sondern auch die Betreuung, die Küche, die Verwaltung, die Hauswirtschaft und -Technik sowie die Nebenkosten für Einkäufe, Materialien, Wasser, Strom ... Natürlich muss am Ende noch ein bisschen was über bleiben, schließlich sind auch Reparaturen oder Modernisierungen irgendwann fällig.
Bleibt also die Frage: Wo soll das Geld für Personal dann herkommen?
Und genau hier sind wir am Knackpunkt angekommen. Solange das Geld im Fokus steht und Häuser jeden Cent umdrehen müssen, um bestehen zu können oder Gesellschaften ihre Finger im Spiel haben, die Profit aus ihrem Investment ziehen wollen, wird Pflege niemals eine zufriedenstellende Qualität erreichen. Die Bedürfnisse des alten und kranken Menschen sind egal, solange der Rubel rollt. Eingespart wird am Ende bei der Versorgung und der Zeit am Patienten. Diese Ersparnis führt zur Unterversorgung, die mit entsprechenden Folgeerkrankungen, z.B. Dekubitus oder Kontrakturen, schlussendlich mehr Kosten verursachen, als die Prophylaxe – eine Milchmädchenrechnung. Alleine ein entstandener Dekubitus verursacht Kosten in Höhe von 100.000–130.000 €!
Aus den Personalengpässen resultieren schnell defizitär laufende Einrichtungen, welche erstmal Betten – respektive Stationen – dicht machen und damit Einbußen generieren, bis sie schlussendlich komplett schließen. Das dann frei werdende Personal kann Lücken anderorts füllen, die Kapazität im Allgemeinen nimmt aber auf lange Sicht ab. Das hat dann nicht nur finanzielle Nachteile für die pflegebedürftigen Personen, denn in der freien Marktwirtschaft regelt die Nachfrage das Angebot, sondern auch versorgungstechnische. Bleiben nämlich die Kapazitäten bei steigender Nachfrage gering, müssen immer mehr Menschen zu Hause gepflegt werden, die dort eigentlich nicht mehr bleiben können. Eine Mammutaufgabe für jeden Angehörigen, der noch nebenher berufstätig ist oder gar eine Familie hat – noch schlimmer für die Pflegebedürftigen, die keine Angehörigen haben.
Das selbe Bild spiegelt sich im ambulanten Sektor wieder: Preise für Tätigkeiten im Bereich SGB V und XI, also der Behandlungspflege respektive Körperpflege, müssen regelmäßig mit den Kranken- und Pflegekassen verhandelt werden. Dabei entsteht ein Tauziehen zwischen Kassen, die möglichst wenig ausgeben wollen, und Pflegediensten, die eine Bezahlung wollen, bei der sich diese Tätigkeit überhaupt lohnt und angeboten werden kann. Dabei entstehen völlig absurde Preise.
Ein Beispiel: Die Arzneimittelgabe und /-überwachung bringt einem ambulanten Pflegedienst in Rheinland-Pfalz 2,71 € ein. Zusätzlich gibt es eine Hausbesuchspauschale von 6,27 €. Macht summa summarum 8,98 € für diesen Besuch. Dagegen stehen Ausgaben für Personal (Pflegefachperson + Verwaltung), Fahrzeug, Sprit, Schutzmaterialien wie Handschuhe & Masken, Miete der Station und Versicherungen. Wenn man diese Kosten mit den knapp 9 € gegenrechnet, die man für diese Tätigkeit erhält, bleiben einem ca. 3 Minuten als Zeitkorridor, bevor diese Medikamentengabe für den ambulanten Dienstleister negativ in der Bilanz steht.
Stellen wir uns jetzt Maria vor, die fleißige Pflegefachperson, die bei Fr. Müller die Medikamentengabe durchführen muss. Sie kommt zur Mittagszeit mit dem Auto und findet erst einmal keinen Parkplatz. Als sie endlich einen findet, einmal um den Häuserblock gelegen, läuft sie zu Fuß zum Haus von Fr. Müller und klingelt. Diese ist mit dem Rollator nicht so schnell zu Fuß, es dauert also, bis sie öffnet. Bedauerlicherweise wohnt Fr. Müller im fünften Stock ohne Aufzug, Maria muss die Treppen sportlich erklimmen und ist froh, endlich angekommen zu sein. Leider hat Fr. Müller Demenz und keine Angehörigen in der Nähe – was die Medikamentengabe überhaupt erst notwendig macht – und natürlich hat sie ihre Pillen verlegt. Maria ist aber pfiffig im Suchen und kennt ihre Lieblingsverstecke – und siehe da, in der dritten geöffneten Schublade liegt der Medikamentendispenser. Fr. Müller erhält ihre Tabletten, schluckt sie brav, anschließend verabschiedet sich Maria freundlich aber bestimmt, während sie ihre Leistungen dokumentiert. Fr. Müller will ihr noch von ihrem Tag erzählen, aber dafür ist keine Zeit. Maria sprintet die Treppen runter, rennt um den Block und sitzt dann endlich im Auto, um weiterzufahren. Klingt nach spannenden 3 Minuten, oder? Leider waren das knappe 10.
„Aber Pflege ist doch eine Mischkalkulation! Das holt man doch bei der nächsten aufwändigeren Person wieder rein“, höre ich rufen, und das stimmt. Aber: Maria ist in der Situation Fr. Müller nicht gerecht geworden und beim nächsten aufwändigeren Patienten muss sie im gleichen Eiltempo arbeiten, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Sie schafft keine neue Zeit, sondern sie klaut Zeit von jemand anderem, der diese ebenfalls benötigt, damit sie nicht beim Chef antanzen und sich fragen lassen muss, warum sie ihre Tour wieder defizitär beendet hat. Klingt gut, oder?
Heißt also im Klartext: Egal ob es um stationäre oder ambulante Pflege geht, Pflegepersonen sind im konstanten Spagat zwischen Effektivität/Gewinnoptimierung und ihrem Gewissen/Berufsethos. Und dazwischen sitzen Patienten und ihre Angehörigen, die nicht begreifen, dass die lange Wartezeit in der Notaufnahme kein Schikane des Personals ist (das auch viel lieber etwas trinken und essen oder mal zur Toilette gehen würde), sondern das Symptom der Profitgier.
Dieses Problem bleibt allerdings nicht lange nur bei der Pflege, weil auch das interdisziplinäre Arbeiten ohne Pflegepersonal nicht mehr möglich ist: Operationen können nicht durchgeführt werden, da für OP oder Nachsorge das Personal fehlt und Betten nicht belegt werden können. Angehörige müssen oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen, wenn die Pflege der Mutter in den eigenen 4 Wänden nicht mehr möglich ist, weil Pflegeheime schließen, da nicht genügend Personal vorgehalten werden kann, um den Betrieb zu gewährleisten. An vielen Orten wird selbst die Hilfe von ambulanten Pflegediensten knapp, da diese – wie Hausärzte auch – einen Aufnahmestopp haben. Schließlich gibt es kein Personal für neue Touren. Es fehlt an allen Enden.
Die Coronapandemie hat uns die Schwächen unseres Gesundheitssystems vor Augen geführt. Viele Mitarbeiter in der Pflege haben sich durch den starken Personalausfall mit ausbleibender Perspektive auf Besserung zurecht in den Krankenstand oder gar komplett aus dem Beruf verabschiedet und fehlen nun. Zudem geht das Interesse an der Pflege-Ausbildung zurück und selbst wenn Engagierte ihre Ausbildung erfolgreich beenden, bleiben sie nur ca. 10 Jahre in der direkten Pflege am Bett. Zudem befinden wir uns mitten im demographischen Wandel, dessen Höhepunkt wir erst noch erreichen werden. Nämlich dann, wenn in 15–20 Jahren die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er und 1970er Jahre vom Arbeitsmarkt verschwunden sind und selbst pflegebedürftig werden.
Entgegen den aktuell ca. 4 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland, die von Jahr zu Jahr mehr werden, stehen Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, die jährlich durch Schließungen und Personalmangel in der Zahl abnehmen. Nur knapp die Hälfte dieser 4 Millionen Menschen werden von stationären und ambulanten Pflegediensten versorgt – die restlichen 2 Millionen noch von Angehörigen zu Hause. Man kann sich vorstellen, was passiert, wenn diese nun auch noch durch Krankheitsausfall der Angehörigen oder Geldmangel in das angeschlagene System wandern. Was jetzt noch durch eine Überlastung des Personals zu stemmen scheint, wird in den nächsten Jahren auch mit bestem Willen nicht mehr zu schaffen sein.
Wenn wir den Pflegenotstand heute noch nicht haben, wovon Politiker in allen Reden und Pressemitteilungen ausgehen – weil sie ja täglich am Pflegebett stehen (Achtung, Sarkasmus!) – werden wir ihn spätestens in 20 Jahren in seiner vollen Blüte bestaunen können. Und die Pflegepersonen werden das Problem nicht ausbügeln müssen, denn sie werden sich eines der wenigen, übrig gebliebenen Häuser aussuchen. Das Problem bleibt am Ende an den Angehörigen hängen, die sich um die Versorgung ihrer Liebsten kümmern müssen, ohne dabei professionelle Hilfe zu erhalten.
Um das Bild des Pflegenotstandes abzurunden muss auch der mediale Umgang erwähnt werden. Ja, auch ich werde jedes Mal sauer, wenn ich erneut auf den Titelseiten lese, dass Mitarbeiter diverser Flugunternehmen oder der Bahn streiken und mehr Gehalt fordern, sogar noch dem Streik. Versteht mich nicht falsch, ich gönne jedem seine Gehaltserhöhung. Nur ist es mir ein Rätsel, wie Pflegepersonen in NRW über Wochen hinweg streiken können und es kaum medialen Anklang findet. Nah- und Fernverkehr scheinen einen höheren Stellenwert zu haben. Klatschen für die Pflege war okay, trotzdem ist sie unschön – man will einfach nichts davon hören.
Was mir ebenfalls aufstößt, ist, dass oftmals ÜBER Pflege geredet wird, leider selten MIT der Pflege. In Talkshows sitzen Politiker, Wissenschaftler, Gewerkschafter, Prominente mit Meinungen und Ideen zur Bekämpfung des Pflegenotstands. Nur sind das Personen, die nicht ferner eines Pflegebettes stehen könnten und die die Probleme gar nicht begreifen können. Und wir Pflegepersonen sind zu sehr damit beschäftigt, das bisschen Rest an Gesundheitssystem, was wir noch haben, am Laufen zu halten – wohlwissend, dass wir es nicht mehr retten können.
Es muss also was getan werden, am besten gestern schon. Die Hoffnung, den Kollaps des Gesundheitssystems zu verhindern, liegt in den Händen der Politik. Einfach Geld in unser ineffektives System reinzupumpen, wird keinen Erfolg bringen, denn es wird niemals dort landen, wo es gebraucht wird. Stattdessen:
Der Notstand betrifft nicht nur die Menschen, die in der Pflege arbeiten – sondern auch die, die sie benötigen. Wir alle werden alt und brauchen irgendwann Hilfe. Genau deswegen ist es wichtig, darüber aufzuklären, Lösungen zu erarbeiten und diese auch umzusetzen. Am Ende des Tages ist der Pflegenotstand vor allem eines: Eine notwendige Operation am offenen Herzen des Gesundheitssystems.
Schreibt mir gern mal in die Kommentare: Wie erlebt ihr die aktuelle Situation?
Bildquelle: amirreza jamshidbeigi, unsplash