Vorsicht, Winter: Ein Teenager entwickelt relativ akut eine unilaterale Augenschwellung, die die behandelnden Ärzte in Verwirrung stürzt. War eine Schneeballschlacht schuld?
Willkommen zu einer winterlichen Kasuistik aus den Latifundien der Augenheilkunde. Ein 16-jähriger Junge wurde mit einer akuten, rechtsseitigen, periorbitalen Schwellung bei einem niedergelassenen Augenarzt vorstellig. Anamnestisch berichtete er, dass ihn einige Tage zuvor in dieser Gegend des Gesichts ein Schneeball getroffen habe.
Der Augenarzt empfahl, abzuwarten und warme Kompressen anzulegen. Als das nicht half, wurde unter dem Verdacht auf eine unklare Infektion eine Doxycyclin-Behandlung initiiert. Das Ganze zog sich über fast drei Wochen hin. Es entwickelte sich eine deutliche Proptosis. Irgendwann berichtete der Patient über Doppelbilder, die Schmerzen im Bereich der Schwellung nahmen zu und als das Sehen auf dem betroffenen Auge zunehmend verschwommen wurde, fiel endlich die Entscheidung, eine Krankenhausnotaufnahme aufzusuchen.
Dort waren die aufnehmenden Ärzte hinreichend besorgt, um eine MRT-Untersuchung des Kopfes zu initiieren. Diese zeigte eine homogen wirkende Masse in der Orbita, genauer im intrakonalen Raum zwischen dem Augapfel und der intraorbitalen Augenmuskulatur. Die Masse war in der T1-Aufnahme stark hyperintens, zeigte aber keine Fettsättigung. Das MRT-Bild führte zu einer notfallmäßigen Überweisung in die Augenklinik.
Auch in der Augenklinik wurde man aus dem Teenager und seinem merkwürdigen MRT-Bild zunächst nicht so recht schlau. Also weitere Diagnostik: Der Visus links war altersentsprechend in Ordnung, rechtseitig lag er, passend zu dem, was der Patient beschrieb, nur bei etwa einem Drittel. Die Pupillenreaktion war beidseits in Ordnung, nicht dagegen der intraokulare Druck, der linksseitig 17 mmHg, rechtseitig dagegen 24 mmHg betrug. Die Proptosis wurde ausgemessen und auf 5 mm quantifiziert. Die Konjunktiven waren entzündlich gerötet, die Papilla nervi optici stark ödematös (Grad IV) und die Choroidea zeigte einen deutlichen Faltenwurf.
Das alles half immer noch nicht so richtig weiter, sodass eine Ultraschalluntersuchung initiiert wurde. Die intrakonale Masse entpuppte sich als eine etwa 2,0 x 2,5 cm große, nicht vaskularisierte, echoarme Struktur. Dieses Bild zusammen mit dem MRT wurde dann dem diensthabenden pädiatrischen Radiologen geschickt und der stellte die Verdachtsdiagnose einer Epidermoidzyste. Was man halt so hat, als Kind hinter dem Auge.
An der Stelle passierte dann endlich das, was niemand am Auge gerne macht, was aber alternativlos war – es wurde biopsiert. Kurze Zwischenbilanz: Im MRT gab es keine überzeugenden Hinweise für ein entzündliches Geschehen, sodass eine denkbare notfallmäßige Steroidtherapie zur Dekompression nicht wirklich indiziert schien. Und weder MRT oder Ultraschall sahen nach Neuroblastom oder einem anderen bösartigen Kindertumor aus. Ergo: Reinstechen, immerhin bestand mittlerweile – siehe Augeninnendruck, siehe Papillenödem, siehe Choroidea-Falten – akute Gefahr für eine irreversible Schädigung von Nervus opticus oder Retina.
Was die Chirurgen fanden, war eine blutige Flüssigkeit, die sich auch absaugen ließ. Keine „Masse“, keine Kapsel. Um nach der Biopsie nicht mit leeren Händen dazustehen, wurde das umliegende Gewebe biopsiert. Ein erster Erfolg war, dass das Diskusödem nach der Biopsie zurückging, der Augeninnendruck sich normalisierte und der Visus sich wieder in Richtung Normalniveau entwickelte. Die Ärzte waren sich jetzt ziemlich sicher, dass der Opticus-Nerv noch intakt war, hatten aber immer noch keine Diagnose. Die lieferte dann, wie so oft, der Pathologe. Tatsächlich war das, was im MRT für eine Dermatoidzyste gehalten worden war, am Ende doch eine Blutung. Allerdings keine normale traumatische Blutung – der Schneeballwurf war zu dem Zeitpunkt auch schon einen Monat her.
Der Pathologe diagnostizierte ein Lymphangiom, an das die Kollegen zuvor nicht gedacht hatten, weil das MRT-Bild nicht aussah wie ein Lymphangiom, bei dem typischerweise multizystische Gebilde erwartet werden, die sich durch in der Regel mehrere Flüssigkeit-Flüssigkeit-Spiegel auszeichnen. Der genauere Blick aufs MRT zeigte retrospektiv tatsächlich Hinweise auf eine gewisse Kompartimentalisierung der „Masse“, aber ein eindeutiger MRT-Befund war es in jedem Fall nicht. Und das dürfte an dem Schneeball gelegen haben, der wahrscheinlich zu einer Einblutung ins Lymphangiom führte, was wiederum den MRT-Befund verwischte.
Lymphangiome bei Kindern sind nicht selten, betonten die Autoren der Kasuistik, die sie in der Fachzeitschrit JAMA Ophthalmology veröffentlicht haben. Etwa jede fünfundzwanzigste intraorbitale Läsion bei unter 20-Jährigen sei ein Lymphangiom. Therapeutisch gibt es in Frühstadien medikamentöse Therapieoptionen, bei dem hier vorstellig gewordenen Kind half nur noch eine Operation. Sechs Monate nach dem Eingriff war der Junge wieder weitgehend hergestellt. Leichte Doppelbilder bestanden allerdings, sodass im Verlauf möglicherweise eine Strabismus-Operation nötig wird.
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