Gesunde Cola Light und ungesundes Olivenöl? Der Nutri-Score ergibt auf den ersten Blick nicht immer Sinn – denn was er eigentlich aussagen soll, wissen die wenigsten.
Der Nutri-Score ist seit 2020 auf immer mehr verarbeiteten Lebensmitteln in deutschen Supermärkten zu finden; seine Angabe ist allerdings nicht verpflichtend. Er soll Verbrauchern dabei helfen, beim Einkauf die gesündeste Wahl zu treffen. Schließlich ist dank seiner Ampelfarbgebung theoretisch schnell ersichtlich, ob es sich um ein gesundheitsförderliches Lebensmittel handelt – sofern man die Spielregeln kennt.
In der Realität scheint der Nutri-Score jedoch eher für Verwirrung zu sorgen, statt als sinnvolle Entscheidungshilfe bei der Auswahl gesunder Produkte zu dienen. Dafür gab es in der Vergangenheit bereits laute und berechtigte Kritik.
Im Fokus der Kritiker: die Score-Einführung. Diese verlief sehr schleppend und lieferte Verbrauchern kaum eine Anleitung zum Verständnis der Ampel. Wichtig zu wissen ist nämlich, dass der Nutri-Score eine Art Vergleichsinstrument darstellt, das Lebensmittel innerhalb einer Kategorie bewertet. Er ist also dafür gedacht, Tiefkühlpizza mit Tiefkühlpizza, Joghurt mit Joghurt und Fischstäbchen mit Fischstäbchen zu vergleichen. Ungeeignet dagegen ist er zum Vergleich zwischen Tiefkühlpizza und Nussriegel. Hättet ihr’s gewusst? Wir befürchten, dass diese Information viele Menschen noch nicht erreicht hat.
Problematisch ist außerdem: Viele Lebensmittelinhaltsstoffe werden bei der Berechnung gar nicht erst berücksichtigt. Dazu gehören zum Beispiel die sehr gesundheitsförderlichen Omega-3-Fettsäuren, Vitamine sowie sekundäre Pflanzenstoffe oder aber Zutaten, die eine besonders hohe Verarbeitung von Lebensmitteln kennzeichnen und sich negativ auf die Gesundheit auswirken könnten. Dieses Versäumnis führt beispielsweise zu sehr schlechten Nutri-Score-Bewertungen eigentlich hochwertiger Pflanzenöle, wie Olivenöl. Unverarbeitete Lebensmittel, also vorrangig Obst und Gemüse, sind von den Berechnungen ausgeschlossen, obwohl sie Hauptbestandteil einer ausgewogenen Ernährungsweise sein sollten und vermutlich durchgängig ein „A“ verdient hätten.
Auch die standardmäßige Berechnung für je 100 Gramm Verzehrmenge eines Lebensmittels ist nicht besonders alltagstauglich. Sicherlich isst man von einer Pizza etwa das Dreifache dieser Berechnungsgrundlage, während vom Olivenöl mit einem Esslöffel gerade mal ein Zehntel der Menge konsumiert wird. Die Klassifizierung in „gute“ und „schlechte“ Lebensmittel hat also durchaus ihre Tücken.
Besonders interessant: Lebensmittelhersteller berechnen eigenständig und ohne objektive Kontrollinstanz die Nutri-Scores ihrer Produkte. Das bedeutet Spielraum. So können sie selbst entscheiden, welcher Produktkategorie ihr Lebensmittel zugeordnet wird oder ob sich die Berechnung gar erst auf das damit zubereitete Gericht bezieht. Das ist auch der Grund, weshalb zuckerhaltiges Trinkschokolade-Pulver mit einem freundlichen „B“ gekennzeichnet ist: Die entsprechende Berechnung erfolgte auf Grundlage eines Kakaogetränks, das mit fettarmer Milch (Nutri-Score „A“) zubereitet wird. Mit Vollmilch oder bei der Betrachtung des Pulvers als solches, würde das Scoring deutlich schlechter ausfallen.
Alle Kritikpunkte sind legitim, aber am Ende vielleicht doch vernachlässigbar, sollte gezeigt werden können, dass der Nutri-Score trotz seiner (zahlreichen) Schwächen dazu führt, dass insgesamt gesündere Lebensmittel gekauft und verzehrt werden. Was sagt also die Wissenschaft zum bisherigen Effekt des Nutri-Scores?
Im Rahmen eines französischen Einkaufsexperimentes (mehr als 1,6 Mio. analysierte Einkäufe) sorgte der Nutri-Score als einziges Label dafür, dass tatsächlich gesündere Produkte im Einkaufswagen landeten – auch wenn der Effekt insgesamt niedriger als erwartet ausfiel. Bei einer kleineren Befragung mit Menschen, denen der Nutri-Score noch nicht bekannt war, konnte hingegen kein Einfluss auf das Kaufverhalten nachgewiesen werden. Die Autoren weisen deshalb auf die Bedeutung einer angemessenen Verbraucheraufklärung hin.
Der Nutri-Score hat zudem das Potenzial, mit irreführenden Aussagen, die aus Marketing-Gründen auf Verpackungen gedruckt werden, aufzuräumen. So werden Produkte mit der Bezeichnung „weniger süß“ oder „ohne Zuckerzusatz“ tendenziell als gesünder wahrgenommen, obwohl das nicht zwangsläufig der Fall ist. Deutsche Wissenschaftler haben in einer Studie gezeigt, dass die Score-Kennzeichnung dazu in der Lage ist, die Verbraucherwahrnehmung zu beeinflussen, indem dieser sogenannte Health-Halo-Effekt (engl.: Gesundheits-Heiligenschein) relativiert wird. Der Nutri-Score kann also Verbrauchern dabei helfen, den Gesundheitswert von Lebensmitteln realistischer einzuschätzen. Um aus dieser Erkenntnis Nutzen zu ziehen, bietet es sich an, den Score zukünftig flächendeckend und verpflichtend einzuführen.
Wie gut das Ampelsystem bei Verbrauchern ankommt, möchte das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft demonstrieren. Laut einer Befragung scheinen Verbraucher, im Vergleich zu anderen Kennzeichnungsmöglichkeiten, den Nutri-Score zu bevorzugen. Aussagen zur tatsächlichen Akzeptanz der Kennzeichnung im Supermarkt lassen sich aus einer solchen Umfrage jedoch nur bedingt ableiten.
Doch was bringt es, wenn es am Ende tatsächlich hauptsächlich Lebensmittel mit einem positiven Score aus dem Supermarkt auf die Teller von Verbrauchern schaffen? Eine aktuelle Studie ergab, dass der regelmäßige Verzehr von Lebensmitteln, die laut Nutri-Score-Berechnung mit „D“ oder „E“ bewertet werden, mit einem erhöhten Sterblichkeitsrisiko bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs verbunden ist. Umgekehrt scheint der Ersatz solcher Produkte durch frische und unverarbeitete Lebensmittel das Sterblichkeitsrisiko zu senken.
Der Nutri-Score könnte also tatsächlich als sinnvolle Orientierungshilfe für Verbraucher dienen. Bisherige positive Resultate lassen erahnen, welches bislang noch ungenutzte Potenzial ausgeschöpft werden könnte, würde eine entsprechende Aufklärungskampagne das nötige Zusatzwissen vermitteln, um zu verstehen, warum Olivenöl und Cashewkerne ein orangenes, Trinkschokolade aber ein grünes Etikett ziert. Für Maßnahmen, die die Nutri-Score-Spielregeln verbraucherfreundlich und niederschwellig kommunizieren, ist es noch nicht zu spät. Theoretisch ist es auch möglich, die Berechnungsrichtlinien des Scores anzupassen und genannte Schwächen gezielt zu beheben – gäbe es keine politischen und wirtschaftlichen Hürden.
In einer perfekten Welt könnte sich der Nutri-Score als wirksames und kostengünstiges Instrument zur Vorbeugung von ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten etablieren. Der Weg dahin ist allerdings noch nicht geebnet. So werden wir erst in einigen Monaten oder Jahren einschätzen können, welchen Mehrwert der Nutri-Score tatsächlich bietet.
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