Über 600 Arzneimittel stehen unter dem Verdacht ototoxisch zu sein. Das Gehör wird oft nur vorübergehend geschädigt, manche Patienten ertauben aber auch irreversibel. Betroffen sind vor allem Antibiotika und Chemotheraputika. Gibt es Wege, die Hörschädigung zu verhindern?
Der Hinweis „Schädigungen des Gehörs sind möglich“ ist auf vielen Beipackzetteln von Arzneimitteln zu finden. Konkret heißt das: Arzneimittel können im schlimmsten Fall taub machen. Es handelt sich dabei um ototoxische Arzneimittel wie beispielsweise Aminoglykoside, Cisplatin oder Furosemid. Sie können auf die Cochlea, das vestibuläre System oder beides wirken. Es gibt über 600 Arzneimittel, die ototoxisch sind, wie aus einer Übersichtsarbeit von Ganesan et al. hervorgeht. Die Symptome können von Tinnitus, Hyperakusis, Schwindel bis zur irreversiblen Taubheit reichen. Während einige Schäden reversibel sind, führt die Wirkung anderer zur dauerhaften Schädigung des Gehörs und gegebenenfalls auch zum Verlust des Gleichgewichtssinns. Bei Kindern kann selbst ein leichter Hörverlust die Sprach-, kognitive und soziale Entwicklung beeinträchtigen, was zu schlechter schulischer Leistung und psychosozialen Nachteilen führen kann.
Seit langem ist bekannt, dass bestimmte Antibiotika toxische Nebenwirkungen auf das Hör- und Gleichgewichtsorgan haben können. Sie gehören bis auf wenige Ausnahmen zur Gruppe der Aminoglykosidantibiotika. Die später entwickelten Antibiotika dieser Gruppe sind zwar weniger ototoxisch, können aber bei hoher Dosierung ebenfalls innenohrschädigend sein. Das am besten verstandene Wirkprinzip ist die Blockade der Bildung von Inositoltrisphosphat durch Aminoglykosid-Antibiotika, die die Phosphorylierung des Membranlipids Phosphatidylinositol verhindern. Angriffspunkt sind die Haarzellen der Hörschnecke im Innenohr. Von ihnen gehen Nervenfasern aus, die sich zum Hörnerv vereinigen und ins Gehirn führen. Wirkt ein Medikament ototoxisch, werden die Haarzellen irreversibel geschädigt und sterben ab.
Aminoglykoside gelangen durch einen spezifischen Transduktionskanal, der auf den Zilien der Haarzellen sitzt und sich durch Bewegung öffnet, in die Zellen. Die elektrische Ladung des Kanals verhindert, dass die Aminoglykoside die Zelle nicht mehr verlassen können und kumulieren. Im weiteren Verlauf kommt es zur Bildung von reaktiven Sauerstoffradikalen (ROS) die zum Zelluntergang führen. Die Antibiotika Streptomycin, Gentamycin und Tobramycin besitzen eine hohe schädigende Wirkung auf den Gleichgewichtsnerv, der Hörnerv wird seltener angegriffen. Häufig macht sich der ototoxische Effekt durch Schwindel und Tinnitus, seltener durch Drehschwindel und Hörverlust bemerkbar. Neomycin besitzt eine sehr starke irreparable innenohrschädigende Wirkung. Häufig werden die Sinneszellen in der Hörschnecke geschädigt und der Gleichgewichtsnerv angegriffen.
Die einzelnen Substanzklassen der Antibiotika haben extrem unterschiedliche pharmakokinetische und pharmakodynamische Eigenschaften. Bedenkenswert ist, dass eine große Anzahl einer Indikationsgruppe ototoxische Eigenschaften besitzt. Die Makrolidantibiotika Chloramphenicol, Tetracyclin, Azithromycin und Erythromycin werden verdächtigt, ototoxische Nebenwirkungen vor allem auf die Sinneszellen der Hörschnecke zu haben. Auftretende ototoxische Nebenwirkungen sollen nach Absetzen des Präparates reparabel sein. Auch Glycopeptid-Antibiotika wie Vancomycin haben eine hohe ototoxische Nebenwirkungsrate, auch hier kann in erster Linie die Hörschnecke mit den Sinneszellen irreparabel geschädigt werden.
Manche Wissenschchaftler sind der Meinung, dass eher Entzündungen und weniger die dagegen gegebenen Antibiotika für Hörschäden verantwortlich sind. Wer Antibiotika einnimmt, dessen Immunsystem ist durch die bakterielle Infektion geschwächt, auch dies könnte kausal für Hörstörungen verantwortlich sein. In einer Fall-Kontroll-Studie analysierten HNO-Ärzte um Dr. Mahyar Etminan der Universität Vancouver mehr als sechs Millionen Einträge aus der LifeLink-Datenbank, in der Gesundheitsdaten von über 60 Millionen Patienten aus den USA gespeichert sind, nach Hörverlustdiagnosen. Gefunden wurden knapp 6.000 Patienten im Alter von 15 bis 60 Jahren mit einer per Audiogramm bestätigten Diagnose eines sensorineuralen Hörverlusts. Besonders auffällig war folgendes Ergebnis: Hörverlustpatienten wurde im Jahr vor dem Ereignis zu 42 Prozent häufiger ein Rezept mit Makrolidantibiotika ausgestellt als in der Kontrollgruppe (13,7 versus 10,7 Prozent). Die Hörschäden schienen dosisabhängig zu sein. Die Forscher zogen die Schlussfolgerung, dass nicht die Antibiotika kausal für die Hörschäden verantwortlich sind, sondern die Entzündungsreaktion und der geschwächte Allgemeinzustand. Diese Faktoren führen zu einer metabolischen Veränderung und zum Zelltod der Cochlea. Je häufiger der Patient ein Antibiotikum benötigt, umso stärker ist sein Immunsystem geschwächt. Dies würde die scheinbar dosisabhängige Ototoxizität erklären. Es bleibt allerdings unklar, ob nun hauptsächlich Infekte oder die Antibiotika das Gehör schädigen beziehungsweise welchen genauen Anteil beide an der Hörschädigung haben.
Nicht nur Antibiotika stehen stehen im Verdacht, Ertaubungen zu verursachen. Unter dem Chemotherapeutikum Cisplatin ist das Risiko für Hörstörungen besonders hoch. Die Cisplatin-Ototoxizität tritt bei 23% – 50 % der erwachsenen Patienten auf und bei bis zu 60 % der Kinder. Cisplatin wird häufig bei pädiatrischen Patienten mit Neuroblastom oder Hepatoblastom eingesetzt. Wei et al. untersuchten in einer Studie, wie häufig in diesem Kontext verabreichtes Cisplatin zu Hörstörungen bis hin zum kompletten Hörververlust führen kann. Es wurden Daten im Zeitraum 2005 bis 2017 analysiert. 23,7 Prozent der therapierten Kinder sind ertaubt. Eine Studie der Universität Birmingham ergab, dass Natriumthiosulfatinfusionen hingegen die Ototoxizität von Cisplatin erheblich reduzieren kann. Insgesamt wurden 109 Kinder randomisiert einer Gruppe zugeteilt und erhielten Cisplatin plus Natriumthiosulfat (57 Kinder) oder Cisplatin allein (52). Die absolute Gehörschwelle wurde bei 101 Kindern untersucht. Gehörverlust Grad 1 oder höher trat bei 18 von 55 Kindern (33 %) in der Cisplatin-Natriumthiosulfat-Gruppe auf, verglichen mit 29 von 46 (63 %) in der Cisplatinmonotherapie-Gruppe. Auf die Wirksamkeit von Cisplatin hatte Natriumthiosulfat keinen Einfluss.
Chemotherapeutika gehören sicherlich zu den relativ seltener eingesetzten Pharmaka. Aber auch freiverkäufliche Arzneimittel wie Paracetamol und Acetylsalicylsäure können das Gehör schädigen. „Wenn Aspirin zur Taubheit führt“ titelte bereits im Jahr 2014 das Nachrichtenmagazin FOCUS. Eine Studie des Brigham and Women’s Hospital (BWH) warnte davor, dass hohe Dosen Acetylsalicylsäure zu massiven Hörstörungen führen können. Frühere Studien haben gezeigt, dass die Verwendung von hochdosierten NSARs oder Acetylsalicylsäure ototoxisch sein kann. Die Ototoxizität kann durch mehrere verschiedene Mechanismen vermittelt werden, darunter die Vermittlung der äußeren Haarzellfunktion, die reduzierte Gefäßversorgung der Cochlea und die Hemmung der Cyclooxygenase. Auch bei Paracetamol wird angenommen, dass die Erschöpfung des Cochlea-Glutathions durch den Wirkstoff zu einer höheren Anfälligkeit der Cochlea für lärmbedingte Schäden führen kann. In einer Studie von Brian M. Lin wurde der Zusammenhang bei mehr als 55.000 Frauen über mehr als zwei Jahrzehnte untersucht. Hörstörungen zeigten sich dosisabhängig besonders häufig bei der Einnahme von Paracetamol. In der Studie wurde kein Zusammenhang zwischen der Dauer des regelmäßigen (≥ Tage/Woche) ASS-Konsums und dem Risiko eines Hörverlustes festgestellt. Die Forscher vermuten, dass die Warnung vor der Ototoxizität von ASS aus vorangegangen Studien sich auf sehr hohe Dosen bezog.
Die Warnungen sind nicht neu, bereits im Jahr 2010 wurde in einer Studie von Curhan darauf hingewiesen, das nicht-opioide Analgetika das Gehör schädigen können. Im Rahmen dieser Studie mit einem Untersuchungszeitraum von 18 Jahren wurden 27.000 Männer beobachtet und hinsichtlich Hörstörungen und der Analgetikaeinnahme befragt. 3.488 neue Fälle von Hörproblemen wurden dokumentiert. Das Risiko von regelmäßigen Anwendern (2-mal pro Woche oder öfter) war im Vergleich zu Männern, die das betreffende Analgetikum weniger als 2-mal pro Woche einnahmen insgesamt 1,12-mal höher unter ASS, 1,21-mal höher unter NSAR (Ibuprofen u.a.) und 1,22-mal höher unter Paracetamol. Bei NSAR und Paracetamol stieg das Risiko mit der Einnahmedauer. Generell war der Zusammenhang bei jüngeren Männern wesentlich stärker ausgeprägt als bei älteren. So waren regelmäßige Anwender unter 50 Jahren unter ASS-Einnahme um ein Drittel häufiger und unter Ibuprofen sowie NSAR fast um zwei Drittel häufiger von Hörverlust betroffen als gleichaltrige Gelegenheitsanwender. Unter mehrmaliger Paracetamol-Einnahme pro Woche war die Fallzahl sogar doppelt so hoch. In der Altersspanne zwischen 50 und 60 Jahren nahm die Abhängigkeit zwischen Hörverlust und Schmerzmittelkonsum generell ab, bei den untersuchten über 60-Jährigen noch deutlicher.
Die Mechanismen, die zu einem toxischen Innenohrschaden führen, sind verschieden und noch nicht alle bis ins letzte Detail verstanden. Die Studien zu Hörschädigungen durch Analgetika liefern heterogene Ergebnisse und lassen viele Fragen offen. Dennoch sollten die Hinweise auf gehörschädigende Wirkungen als Risiko gewertet werden. Gerade bei Patienten, die bereits über Hörstörungen klagen, ist es wichtig Nutzen und Risiken sorgfältig abzuwägen. Das gilt auch für andere Arzneistoffgruppen, die toxische Nebenwirkungen auf das Hör- und Gleichgewichtsorgan haben. Ärzte sollten vor dem Verordnen überprüfen, ob es in der Wirkstoffklasse alternative Arzneistoffe gibt, bei denen keine Ototoxizität dokumentiert ist – zumindest soweit das möglich ist. Denn nicht immer ist Ototoxizität als Nebenwirkung vermerkt und es existieren oft schlichtweg keine Alternativen. Ein Problem ist auch, dass ein Hörverlust unter Therapie mit einer ototoxischen Substanz häufig undiagnostiziert bleibt. Daher empfehlen sich während oder nach einer Behandlung mit ototoxischen Medikamenten regelmäßige Gehörprüfungen. Im Falle von Einschränkungen muss das Präparat abgesetzt werden oder darf in Notsituationen nur unter strenger Indikationsstellung weiter verabreicht werden.