Der kürzlich zugelassene Antikörper Obinutuzumab ermöglicht Patienten mit einer chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) ein längeres progressionsfreies Leben als bisherige Therapien. Weitere neue Wirkstoffe gegen die CLL stellen die Ärzte vor die Qual der Wahl.
Mit der Zulassung des monoklonalen Antikörpers Rituximab begann 1997 das Zeitalter der gezielten Krebstherapie. Rituximab richtet sich gegen das Oberflächenmolekül CD20, das sich auf den B-Zellen des Immunsystems nachweisen lässt. Der Antikörper wird vor allem zur Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen verwendet, bei denen sich B-Zellen übermäßig vermehren. Zu dieser Gruppe bösartiger Erkrankungen gehört auch die chronisch lymphatische Leukämie (CLL), die in der westlichen Welt die am häufigsten vorkommende Leukämieform ist und meistens im höheren Lebensalter auftritt. Seit 2009 empfiehlt die Deutsche CLL Studiengruppe (DCLLSG) als Ersttherapie für körperlich fitte CLL-Patienten eine Kombination aus Rituximab und den Chemotherapeutika Fludarabin und Cyclophosphamid (FCR). Jedoch ist diese Therapieform aufgrund der hohen Toxizität von Fludarabin für körperlich beeinträchtigte Patienten mit einer CLL nicht geeignet: Bislang behandelten Ärzte diese Patientengruppe deshalb nur mit dem schwächer wirkenden Chemotherapeutikum Chlorambucil.
Im Frühjahr dieses Jahres konnte ein internationales Forscherteam zeigen, dass Rituximab und insbesondere der neu entwickelte Antikörper Obinutuzumab in Kombination mit Chlorambucil das Fortschreiten der Krankheit länger aufhalten können als das Chemotherapeutikum alleine. Die Wissenschafter um Prof. Michael Hallek testeten die Arzneikombinationen in einer dreiarmigen Phase-III-Studie bei 781 noch unbehandelten CLL-Patienten, die durchschnittlich 73 Jahre alt waren und eine hohe Komorbidität aufwiesen. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im New England Journal of Medicine. Studienteilnehmer, die nur Chlorambucil erhalten hatten, lebten durchschnittlich 11,1 Monate ohne Fortschreiten der Leukämie. Studienteilnehmer, die zusätzlich mit Rituximab oder Obinutuzumab behandelt worden waren, hatten dagegen eine progressionsfreie Überlebenszeit von jeweils rund 16,3 beziehungsweise 26,7 Monaten. Die Behandlung mit Obinutuzumab erzielte bei 20,7 Prozent der Patienten eine komplette Remission, mit Rituximab dagegen nur bei sieben Prozent der Patienten.
Aufgrund der positiven Resultate wurde Obinutuzumab im Juli dieses Jahres unter dem Handelsnamen Gazyvaro® in Europa zur Behandlung von komorbiden Patienten mit einer vormals unbehandelten CLL zugelassen. „Die Ergebnisse der Studie waren beeindruckend“, sagt Hallek, Direktor der Klinik I für Innere Medizin an der Universitätsklinik Köln und Leiter der DCLLSG. „Patienten, für die das FCR-Schema nicht in Frage kommt, haben jetzt mit dem neuen Antikörper eine wirksame Alternative.“ Obinutuzumab bindet genauso wie Rituximab ebenfalls an CD20, greift das Oberflächenmolekül aber an einer anderen Stelle an. Der neue Antikörper wirkt so auch bei Tumorzellen, die gegen Rituximab resistent sind. Er animiert nicht nur das Immunsystem verstärkt zum Angriff auf die Tumorzellen, sondern kann diese im Gegensatz zu Rituximab auch selbst abtöten.
CLL-Patienten scheinen die Behandlung mit Obinutuzumab relativ gut zu vertragen. Nach der ersten Infusion des Antikörpers traten in der Zulassungsstudie zwar vermehrt Übelkeit, Fieber, Schüttelfrost und Blutdruckabfall auf, doch diese Nebenwirkungen hängen wahrscheinlich mit der besonderen Potenz des Medikaments zusammen: „Obinutuzumab führt zu einem schnellen Zerfall der Tumorzellen und der Freisetzung von Botenstoffen, die dann erkältungsähnliche Symptome auslösen können“, erklärt Hallek. „Wichtig ist, dass man dem rechtzeitig entgegenwirkt.“ Die Patienten erhalten deswegen unmittelbar vor der Antikörpertherapie Cortison und Antihistaminika verabreicht, um eine Überreaktion des Immunsystems zu verhindern. Ansonsten besteht das Risiko eines Zytokinsturms – einer potenziell lebensgefährlichen Entgleisung des Immunsystems, bei der es zu einer sich selbst verstärkenden Rückkoppelung zwischen Botenstoffen und Immunzellen kommt. „Wenn man von dieser Gefahr weiß und richtig dagegen steuert, lassen sich diese Nebenwirkungen gut unter Kontrolle halten“, sagt Hallek. „Obwohl wir für die Zulassungsstudie bewusst CLL-Patienten mit hohem Alter und Begleiterkrankungen ausgewählt hatten, verloren wir keinen Teilnehmer durch diese erwartete Nebenwirkung.“
Bislang ist Obinutuzumab nur in Kombination mit Chlorambucil bei einer eng definierten Gruppe von CLL-Patienten zugelassen. „Das ist wohl nicht weit genug gefasst, weil der Antikörper wahrscheinlich auch in weiteren Kombinationen Vorteile für andere unbehandelte Patienten erbringen könnte, bislang fehlen aber noch Studienergebnisse, die das belegen“, sagt Hallek. Auch bei CLL-Patienten mit einem Rezidiv könnte Obinutuzumab helfen: Nachdem eine kleine, kürzlich veröffentlichte Studie in den USA erste Belege dafür geliefert hat, dass der Antikörper auch bei diesen Patienten wirkt, soll er nun in einer großen Zulassungsstudie für diese Indikation getestet werden. Mit ersten Ergebnissen rechnet Hallek in zwei bis drei Jahren. Zur Behandlung der CLL steht Obinutuzumab in Konkurrenz mit einer Reihe weiterer Antikörper, die bereits auf dem Markt sind wie Ofatumumab oder sich in der fortgeschrittenen klinischen Erprobung befinden. Sie binden alle an unterschiedliche Oberflächenmoleküle auf den Tumorzellen und regen deren Zerstörung über verschiedene Mechanismen an. Aber auch auf anderen Wegen können zielgerichtete Wirkstoffe die Tumorzellen angreifen: Die sogenannten Kinase-Inhibitoren blockieren Signalwege, die maligne Zellen benötigen, um sich weiter zu vermehren. Seit Kurzem stehen mit Ibrutinib und Idelalisib die ersten, relativ gut verträglichen Vertreter dieser Substanzklasse zur Verfügung. Ärzte können damit CLL-Patienten behandeln, bei denen mindestens eine Vortherapie erfolglos war.
Die immer größer werdende Anzahl potenter Medikamente zur Therapie der CLL stellt Onkologen vor neue Herausforderungen: „Weltweit zerbrechen sich Experten den Kopf darüber, mit welcher Kombination von Wirkstoffen man einen CLL-Patienten am besten behandeln kann“, sagt Prof. Ralf Bargou, Direktor des Comprehensive Cancer Center Mainfranken in Würzburg. „Deswegen sollten so viele Patienten wie möglich an klinischen Studien teilnehmen.“ Nur auf diese Weise, so der Mediziner, ließen sich systematisch Daten sammeln und die CLL-Behandlung weiter optimieren. Ein wichtiger Schritt in Richtung maßgeschneiderter Therapie, ist auch die Erfassung der genetischen Profile von Tumorzellen: „Noch findet das routinemäßig nicht statt, soll aber in naher Zukunft fester Bestandteil von Studien werden“, sagt Bargou. „Je nachdem welche Veränderungen die Tumorzellen aufweisen, könnten wir diese dann gezielt mit spezifisch wirkenden Substanzen ins Visier nehmen.“ Vielleicht könnte sich so Bargous Vision, CLL-Patienten chemotherapiefrei und wesentlich personalisierter als bisher zu behandeln, schon bald verwirklichen.