Vom Gehirn lernen, um modernere Technik zu entwickeln – dieses Ziel hat sich ein Kieler Forschungsteam gesetzt. Welche erstaunlichen Fakten sie dabei über das Denkorgan und seine Funktion herausfanden, lest ihr hier.
Für Entwicklungen wie das autonome Fahren braucht es technische Systeme, die sehr gut in der Mustererkennung sind und dabei nur wenig Energie verbrauchen. Vorbild könnte hier das Gehirn des Menschen sein. Wie sich Prinzipien aus der biologischen Informationsverarbeitung auf technische Systeme übertragen lassen, untersucht die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) gemeinsam mit Partnern im Sonderforschungsbereich „Neuroelektronik: Biologisch inspirierte Informationsverarbeitung“.
Für seine komplexen Aufgaben muss sich unser Gehirn laufend anpassen („Plastizität“). Mehr als bisher angenommen werden die Mechanismen dahinter nicht nur vom Gehirn selbst, sondern auch von der externen Umwelt gesteuert. Credit: Hermann Kohlstedt.
Mit mathematischen Modellierungen ist es einem Team jetzt gelungen, besser zu verstehen, wie der optimale Arbeitszustand des menschlichen Gehirns entsteht, die sogenannte Kritikalität. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der wissenschaftlichen Zeitschrift Scientific Reports. Sie bedeuten einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer biologisch inspirierten Informationsverarbeitung und neuen, hocheffizienten Computertechnologien.
„Bei einzelnen Aufgaben sind Supercomputer besser als wir Menschen, zum Beispiel im Bereich Künstliche Intelligenz. Aber unserer Aufgabenvielfalt im Alltag sind sie nicht gewachsen. Sie können nicht erst Autofahren, dann Musizieren und abends in geselliger Runde eine Geschichte erzählen“, erklärt Hermann Kohlstedt, Professor für Nanoelektronik.
Außerdem verbrauchen heutige Computer und Smartphones noch immer enorm viel Energie. „Das sind keine nachhaltigen Technologien – unser Gehirn verbraucht im Alltag gerade einmal 25 Watt“, so Kohlstedt weiter. Ziel des interdisziplinären Forschungsverbunds Neuroelektronik ist es daher, neue elektronische Bauelemente für energieeffizientere Computerarchitekturen zu entwickeln. Dafür erforscht der Zusammenschluss aus Ingenieur-, Lebens- und Naturwissenschaften Funktionsweisen des menschlichen Gehirns und wie sie sich entwickelt haben.
Basis der Informationsverarbeitung im Gehirn ist ein Netzwerk aus etwa 86 Milliarden Neuronen. Über Synapsen und Axone geben sie Informationen in Form von Spannungspulsen weiter – entweder gleichzeitig oder unabhängig voneinander (Synchronisation). Laut einer These der Neurobiologie verarbeitet unser Gehirn Informationen dann am schnellsten und energieeffizientesten, wenn es sich im Phasenübergang dazwischen befindet. Dieser Zwischenzustand, die Kritikalität, lässt sich auch mithilfe der Magnetresonanztomographie (MRT) oder Elektroenzephalographie (EEG) nachweisen.
Am leistungsfähigsten ist unser Gehirn, wenn sich seine neuronalen Verbindungen im kritischen Zustand befinden (b), der Kritikalität. Dieser Punkt ist vergleichbar mit dem Phasenübergang in einem magnetischen Material (a). Credit: Hermann Kohlstedt.
In diesem hochkomplexen Zustand kann das Gehirn besonders sensitiv und vielfältig auf äußere Einflüsse reagieren, weshalb es immer versucht, diesen Zustand zu erreichen. „Das Gehirn ist hier nahe am Chaos: Schon kleine externe Stimuli bringen plötzlich ganze Ensembles von Neuronen zum Feuern. Information breiten sich lawinenartig aus und können so besonders leicht übertragen werden, auch in weit auseinanderliegende Gehirnbereiche“, erklärt Kohlstedt. Das ermöglicht eine breite Palette von Reaktionen.
In ihrer aktuellen Publikation gingen die Wissenschaftler der CAU der Frage nach, wie neuronale und auch künstliche Netzwerke diesen Zustand der Kritikalität erreichen. Bisher hatte man angenommen, dass es sich um eine selbstorganisierte Kritikalität handelt, für die allein Mechanismen im Gehirn verantwortlich sind. „Wir konnten jedoch erstmals zeigen, dass auch äußere Einflüsse, also die Umwelt selbst, dazu führen, dass dieser Zustand Netzwerken wie dem Gehirn ‚aufgeprägt‘ wird“, so Erstautor Dr. Petro Feketa.
Dafür wendete das Team mathematische Modellierungen in einem künstlichen Netzwerk von nichtlinearen Oszillatoren an. Diese Schaltungen erzeugen – ähnlich der Neuronen im neuronalen Netzwerk – Spannungsimpulse, die sich ebenfalls synchronisieren können. Außerdem können sie ihre Verbindungen untereinander verändern. Das Forschungsteam simulierte, wie sich die Oszillatoren durch die Interaktion mit der Umwelt im Laufe der Zeit verbinden, um Aufgaben möglichst schnell und effizient zu lösen. Immer wieder stellte sich in diesem Netzwerk ein Zustand der Kritikalität ähnlich im Gehirn ein. „Das war für uns besonders überraschend, weil sich das Netzwerk vorher nicht in diesem Zustand befand und es ursprünglich auch nicht unsere Absicht war, ihn zu erreichen“, so Feketa.
„Vom Standpunkt der Evolutionsbiologie ist dieses Ergebnis durchaus nachvollziehbar. Unsere Umwelt ist so vielfältig, dass die Struktur und innere Dynamik unseres Gehirns im Laufe der Zeit so geformt wurden, dass der Zustand der Kritikalität eine maximale Lösungsbandbreite für unterschiedliche Aufgabenstellungen liefert“, so Prof. Thomas Meurer, Leiter des Lehrstuhls für Automatisierungs- und Regelungstechnik der CAU.
Das Gehirn hat seinen Zustand der Kritikalität also an Einflüsse und die steigenden Anforderungen der sich immer stärker wandelnden Umwelt angepasst. „Umgangssprachlich könnte man sagen: Unser Gehirn wächst mit seinen Aufgaben – und zwar stärker als man vorher gedacht hatte“, fasst Kohlstedt zusammen.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Daniel Öberg, Unsplash