Kaum einer kennt die vollständige Anatomie der Klitoris – zu wenig ist bislang erforscht. Diese Unwissenheit ist nicht nur peinlich, sondern kann in der Praxis auch sehr gefährlich werden.
Kaum ein Organ bekommt so wenig Aufmerksamkeit wie das Zentrum der weiblichen Lust – die Rede ist von der Klitoris. Sie wurde in der Medizin lange ignoriert. Auch heute wissen viele Frauen nicht, wie die Klitoris aussieht, denn erst seit 2022 wird sie in deutschen Schulbüchern korrekt abgebildet. Dabei ist ihre Existenz doch schon seit mehreren Jahrhunderten bekannt. Warum wurde die Klitoris dann so lange ignoriert?
Auch heute kostet es einige Mühen, sich Wissen über die Klitoris und ihre korrekte Anatomie in medizinischen Fachbüchern anzueignen. Beispielsweise findet sich in dem mehr als 600 Seiten umfassenden Anatomieschinken von Moll lediglich folgende Textpassage über die Klitoris:
Mangler et. al merken in ihrer 2022 erschienen Publikation an, dass diese Beschreibung auch noch inkorrekt sei. Abgesehen von der Beschreibung „Kitzler“, die nur eine Funktion der Klitoris wiedergebe, sei die Bezeichnung „Knöpfchen“ eine massiv verniedlichende Untertreibung der tatsächlichen Morphologie und Funktion der Klitoris, schreiben die Autoren.
Bisher konnte auch noch nicht geklärt werden, von wann und wem der deutsche Begriff „Kitzler“ sowohl im fachlichen als auch gesellschaftlichen Sprachgebrauch etabliert wurde. Die erste bisher belegte Beschreibung der Klitoris als Sexualorgan geht zurück ins 16. Jahrhundert: Der italienische Anatom Realdo Colombo lieferte in seinem Werk De re anatomica erstmals eine nachvollziehbare Beschreibung – allerdings ohne Zeichnung. Ein Jahrhundert später, im Jahr 1672, bereicherte Reinier de Graaf medizinische Fachkreise mit detailgetreuen Abbildungen der Anatomie der Klitoris.
Der große Meilenstein in der Klitoris-Forschung erfolgte erst im 19. Jahrhundert: Der Heidelberger Anatom Georg Ludwig Kobelt lieferte 1844 eine klare Darstellung des Organs mit Bezug auf das Becken, die Vagina und Urethra. Darin lieferte Kobelt auch seine Interpretation zur Funktionsweise sowie die gesellschaftliche Einordnung als vermeintlich unbedeutsames Körperareal. Allerdings gehörte er mit seinem Interesse an der Klitoris in seiner Zeit zu einer recht kleinen Minderheit in der medizinischen Forschung.
Generell lag der Fokus auf der Vagina: Lange hielt sich das Bild des „Schlüssel-und-Schloss-Prinzips“ auf die Sichtweise des weiblichen Genitals. Dabei wurde es der Penetration zugedacht – was bis heute in vielen Kulturkreisen Gültigkeit hat, wie auch Mangler et al. schreiben.
Auch berühmte Köpfe wie Sigmund Freud standen mit ihren Theorien der Klitoris-Forschung im Weg: Er indizierte langwierige Psychoanalysen, wenn Patientinnen der vaginale, als „reif“ empfundene, Orgasmus nicht möglich war. Den klitoralen Orgasmus kritisierte Freud als unreif; es bedürfe hier einer Therapie. Ohne jegliche Evidenz trieb er diese Sicht auf die weibliche Sexualität fort. Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es dann zur „visuellen Klitoridektomie“. Es handelt sich dabei um einen feministischen Begriff, der beschreibt, dass die Klitoris in vielen Büchern erst seltener und dann gar nicht mehr abgebildet wurde.
Doch wie hat die Klitoris nun ihren Weg zurück in unsere Fachbücher gefunden? Die Antwort lautet: Helen O’Connell. Australiens erste weibliche Urologin lieferte in ihrer Studie aus dem Jahr 1998 eine korrekte klitorale Anatomie und stieß damit gemeinsam mit anderen wissenschaftlichen Aktivistinnen eine Debatte zum Thema an. Mit 3D-MRT-Modellen zeigte sie die Klitoris im erregten Zustand sowie die Beziehung zu den umliegenden Organen. Darin beschreibt sie die Klitoris zusammen mit der Harnröhre, Blase, Vagina und Uterus als „Organcluster“, der in unmittelbarer Nähe zueinander liegt. Eine Erregung der Klitoris kann dabei von verschiedenen Punkten ausgehen; alle Formen des Orgasmus finden also über sie statt. Ihre Publikationen widerlegen somit auch Freuds Ansicht zu „reifen“ und „unreifen“ bzw. vaginalen und klitoralen Orgasmen.
Auch wenn die vollständige Anatomie der Klitoris bereits bekannt ist, hat sie ihren Weg in die Praxis noch nicht wirklich gefunden – und auch in Forschung und Gesellschaft ist sie noch nicht so richtig angekommen. Die New York Times veröffentlichte kürzlich einen Artikel, dessen Titel die Problematik deutlich macht: „Half the World Has a Clitoris. Why Don’t Doctors Study It?“ Dr. Rachel Rubin, Urologin und Spezialistin für sexuelle Gesundheit, erklärt darin die Antwort auf diese Frage: „Bis vor kurzem standen diese Themen weder ganz oben auf der Prioritätenliste der Medizin, noch wurden sie als angemessene Bereiche des medizinischen Strebens angesehen.“ Das Thema Klitoris sei dabei eng mit dem weiblichen Vergnügen und Orgasmus verbunden und nicht primär relevant für die Fortpflanzung, was zu Desinteresse und Unwissen in Medizin und Forschung geführt habe.
Doch aus medizinischer Sicht ist das kritisch, erklärt Prof. Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin am Vivantes Klinikum in Berlin, auf Anfrage der DocCheck News. Das Unwissen führe dazu, dass bei Operationen an der Vulva kein Verständnis für die Lage der Klitoris und ihrer korrekten Ausbreitung vorhanden ist. Das kann bei Marsupialisationen, Vulvakarzinom-Operationen, sowie Geburtsverletzungen und deren Versorgung oder auch bei fragwürdigen ästhetischen Eingriffen – wie der Labienreduktion oder Klitorisvorhautreduktion – sehr problematisch sein. Darüber hinaus sei völlig unklar, welche Bedeutung eine Hysterektomie oder andere Operationen im gynäkologischen Bereich für die Innervation und Funktion der Klitoris haben – aktuell gebe es dazu keine Evidenz. „Und als Fun Fact: Über Prostataentfernungen und deren Auswirkungen auf die Erektionsfähigkeit des Penis existieren unfassbar viele Studien“, führt die Medizinerin als Kontrastpunkt auf.
„Das Unwissen um die Klitoris führt aber auch dazu, dass sexuelle Funktionen nicht richtig erklärt oder abgeleitet werden können“, sagt Mangler. Das heißt, die Funktionalität und Relevanz der Klitoris könne aufgrund der fehlenden grundlegenden anatomischen Informationen mit Patienten nicht richtig besprochen werden.
Die Klitoris aus medizinischer und forschungstechnischer Sicht so unbeachtet zu lassen, kann also auch sehr gefährlich sein. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Patientin Gillian, das im besagten Artikel der New York Times geschildert wird. Im Jahr 2018 führte ihr Gynäkologe eine Vulva-Biopsie an ihr durch, um nach Anzeichen einer Krebserkrankung zu suchen. Der Arzt vermutete, dass es sich bei dem weißlichen Hautfleck, den sie neben ihrer Klitoris gefunden hatte, um Lichen sclerosus handelte. Für die Biopsie erhielt Gillian eine spinale Epiduralanästhesie, woraufhin der behandelnde Gynäkologe ihr dann ein Stück aus ihrem empfindlichsten Körperteil entnahm.
Was zunächst unbemerkt blieb: Bei der Entnahme des Gewebes verletzte der Gynäkologe Gillian – aus Unwissen über die tatsächliche anatomische Lage der Klitoris. Bereits einen Monat später merkte Gillian, dass sie nicht mehr in der Lage war, einen Orgasmus zu erreichen. Danach begann für sie eine lange diagnostische Tortur. Ihr behandelnder Gynäkologe meinte, das Gefühl würde mit der Zeit wiederkommen – das tat es nicht. Beunruhigt suchte Gillian diverse Spezialisten auf, die ihre Beschwerden unter anderem als Traumareaktion auf die Biopsie – ähnlich zu Vergewaltigungsopfern – abtaten oder auch als Perimenopause. Vier Jahre und 12 Spezialisten später, hat sie sich damit abgefunden, dass sie dieses Gefühl vielleicht nie wiedererlangen wird.
Um so etwas zu verhindern, müssen laut Mangler behandelnde Mediziner die Lage der Schwellkörper und Gefäße sowie die Ausdehnung des Corpus clitoridis kennen. „Man muss sich vorstellen, dass Generationen von Ärzten an der Vulva operiert haben und noch operieren, ohne auch nur annähernd die Anatomie zu kennen.“ Erst jetzt werde langsam klar, wie sehr die Klitoris in der wissenschaftlichen Wahrnehmung fehle, erklärt die Medizinerin.
„Die Klitoris ist wie der Penis – oder der Penis ist wie die Klitoris“, sagt Mangler. Beide Organe bilden sich nämlich während der Embryonalentwicklung aus dem Genitalhöcker. Die vollständig entwickelte Klitoris besteht aus einem Schaft, dem Corpus clitoridis, einer Eichel (Glans clitoridis) und einer Vorhaut (Praeputium mit Frenulum). Der Unterschied zum Penis liegt dabei vor allem in der Größe des Copus clitoridis und der Eichel, da sie wesentlich kleiner sind und die Harnröhre nicht umfassen. Während der Erregung füllen sich auch alle vorhandenen Schwellkörper der Klitoris mit Blut. Laut einer aktuellen Studie der Oregon Health & Science University in den USA ermöglichen dabei mehr als 10.000 Nervenfasern die lustvollen Empfindungen während der Erregung – zuvor lagen die Schätzungen bei etwa 8.000.
Darstellung der klitoralen Anatomie in Bezug auf ihre umgebenden Strukturen. Credit: Mangler et al. (2022)
Das Paar Penis und Vagina werde laut Mangler von der Gesellschaft gerne gebildet, sei aber nicht korrekt. Das weibliche Sexualorgan sei die Klitoris – „sie ist immer bei allen Orgasmen der Frau beteiligt“. Dabei sei die Klitoris nicht nur ein Lustorgan. Es gebe auch Evidenz dafür, dass die Stimulation der Klitoris und Orgasmen die Fertilität steigern, die Paarbeziehung stärken und dass Partner bevorzugt werden, die Orgasmen produzieren.
Die Evidenzlage ist aber aus aktueller Sicht nicht ausreichend. Daher wünscht sich die Gynäkologin, dass in Zukunft Fakten und Evidenz geschaffen werden. Dazu gehört auch, mehr Klarheit über die Innervation der Klitoris, über Auswirkungen von Medikamenten und Operationen zu schaffen – und der Klitoris die gleiche Relevanz beizumessen wie dem Penis. „In den bildlichen Darstellungen in der Medizin fehlt die Klitoris. Man muss sich umgekehrt vorstellen, was man tun würde, wenn auf den Bildern des männlichen Beckens der Penis fehlen würde.“
Bildquelle: Deon Black, Unsplash