Jedes Jahr versuchen Forscher, herauszufinden, gegen welche Grippestämme der nächste Impfstoff wirken soll. Verschätzen sie sich, kann das schwere Folgen haben. Wie sich die Genauigkeit der Vorhersage verbessern lässt, zeigt eine Studie.
Das Influenzavirus ist ein großes Problem für die öffentliche Gesundheit. Wie die meisten Viren mutiert auch das Grippevirus bei seiner Ausbreitung schnell, so dass es schwierig ist, gegen jeden möglichen Stamm zu impfen. Jedes Jahr werden deswegen große Anstrengungen unternommen, um herauszufinden, welche Stämme wahrscheinlich am häufigsten vorkommen werden – damit ein Impfstoff hergestellt werden kann, der den besten Schutz für die jeweilige Saison bietet.
„Es ist ein Ratespiel mit sehr hohem Einsatz. Wir sitzen hier und versuchen zu erraten, welche Varianten als nächstes auftauchen könnten. Ich denke, das unterstreicht, wie wichtig es ist, die grundlegenden Regeln zu verstehen, die die Evolution der Viren bestimmen und wie sie unserem Immunsystem entkommen“, sagt Chris Brooke, Professor für Mikrobiologie an der University of Illinois Urbana-Champaign. Eine aktuelle Arbeit dazu wurde in Cell Host & Microbe veröffentlicht.
Brooke erklärt, dass sich die meisten Forschungsanstrengungen zur Grippeimpfung auf das evolutionäre Potenzial des Oberflächenproteins Hämagglutinin konzentrieren, da dies das Hauptprotein ist, gegen das sich unser Immunsystem richtet. HA bindet an Rezeptoren auf der Oberfläche unserer Zellen und ermöglicht es dem Influenzavirus, einzudringen und sich zu vermehren. Ein anderes Oberflächenprotein, die Neuraminidase, wurde jedoch weitgehend übersehen. NA ist wichtig für den späteren Lebenszyklus des Virus, wenn es die ursprünglich für den Eintritt verwendeten Rezeptoren zerstört, die Zelle spaltet und die Virionen im Inneren freisetzt. HA und NA sind trotz ihrer gegensätzlichen Wirkungen in hohem Maße funktionell miteinander verbunden, da sie beide notwendig sind, damit das Virus Zellen infizieren und sich ausbreiten kann.
Brookes und sein Team untersuchten, wie sich Veränderungen der NA-Aktivität auf das evolutionäre Potenzial von HA auswirken. Dazu verwendeten sie einen Wildtyp-Influenzastamm sowie zwei Stämme, die mit dem Wildtyp identisch sind, aber eine Mutation aufweisen, die die NA-Aktivität reduziert. In Zusammenarbeit mit Nicholas Wu, Assistenzprofessor für Biochemie in Illinois, setzte das Team dann ein Verfahren namens Deep Mutational Scanning ein, um im Wesentlichen eine Bibliothek mutierter HA-Versionen ihrer drei Influenzastämme zu erstellen. Die Forscher konnten dann die HA-Aktivität und Fitness der mutierten Virusstämme messen.
„Dies ist eine Methode mit hohem Durchsatz, um jede mögliche Aminosäure-Substitution in eine bestimmte Region von Interesse einzuführen und dann die Auswirkungen dieser Substitutionen auf die relative Fitness zu messen“, sagt Brooke. „Wir können dann die Auswirkungen bestimmter Substitutionen auf die Fitness in Abhängigkeit von dem NA-Gen, mit dem sie gepaart wurden, quantifizieren.“
Auf diese Weise stellten die Wissenschaftler fest, dass Virusstämme mit verringerter NA-Aktivität eine höhere Mutationstoleranz bei Veränderungen des HA-Gens aufweisen. Mit anderen Worten: Wenn die Influenzastämme mit geringerer NA-Rezeptorbindung mit Mutationen gepaart wurden, die auch die HA-Rezeptorbindung verringerten, zeigten sie im Vergleich zu den Wildtyp-Stämmen, die häufig eine geringere Fitness aufwiesen, weitgehend keine Abnahme der Fitness. Brooke erläuterte, dass dies wahrscheinlich auf die gegensätzlichen Funktionen von HA und NA zurückzuführen ist, wobei erstere dazu dient, in die Zelle einzudringen, und letztere dazu, aus der Zelle zu entkommen.
„Wenn NA eine Substitution hat, die seine Aktivität verringert, sehen wir kompensatorische Substitutionen in HA, die seine relative Aktivität ebenfalls verringern und beide wieder ins Gleichgewicht bringen. Wenn nur eine der beiden Substitutionen steigt oder sinkt, gerät die Zelle aus dem Gleichgewicht, was die Gesamtfitness verringert. Es kommt also zu einer kompensatorischen Substitution, um sie wieder in den optimalen Bereich zu bringen.“
„Ich glaube, wir waren alle überrascht, das zu sehen“, sagt Tongyu Liu, Doktorand in Brookes Labor und Hauptautor der Studie. „Die Lehrbuchmeinung über Mutationen ist, dass sie meist schädlich sind. In unserem Experiment haben wir jedoch gezeigt, dass die Interaktion zwischen HA und NA den Fitness-Effekt von Mutationen umgestalten kann und zwar von überwiegend schädlich zu primär neutral.“
Die Forscher züchteten dieselben Stämme mit verringerter NA-Aktivität auch in Gegenwart von neutralisierenden Antikörpern, die gegen HA gerichtet sind, um zu sehen, welche Mutationen entstehen würden. Das Experiment ahmt im Wesentlichen nach, was im Körper geschieht, wenn Immunzellen das HA-Protein von Grippezellen angreifen, um eine Infektion zu beseitigen. Indem sie untersuchten, welche HA-Varianten sich in dieser Umgebung entwickeln, fanden die Forscher weitere Hinweise darauf, dass die Wege, die die HA-Evolution einschlägt, um dem Druck des Immunsystems zu entgehen, in hohem Maße von der Funktion der NA abhängen.
In der Grippeimpfstoff-Forschung wird die Entwicklung von HA hauptsächlich isoliert von anderen Genen untersucht, doch laut Brooke zeigen diese Daten, dass die Wechselwirkungen zwischen HA und Genen für andere Proteine wie NA untersucht werden müssen, um besser vorhersagen zu können, wie sich HA in Abhängigkeit von Mutationen in diesen anderen Genen in verschiedenen Stämmen entwickeln wird. Man hofft, dass diese Forschung dazu genutzt werden kann, die Genauigkeit der Vorhersage der künftig vorherrschenden Genotypen zu verbessern und Impfstoffe gegen diese Stämme zu entwickeln.
„Jedes Jahr versuchen wir, herauszufinden, gegen welche der vielen verschiedenen zirkulierenden Grippestämme der nächstjährige Impfstoff wirken soll, und wenn wir nicht die richtige Wahl treffen, führt das zu schwereren Infektionen und mehr Todesfällen“, so Brooke. „Es ist also sehr wichtig, die Regeln zu verstehen, nach denen sich das Virus entwickelt, damit wir die spezifischen Wege besser vorhersagen können, die es einschlägt.“
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung des Carl R. Woese Institute for Genomic Biology, University of Illinois at Urbana-Champaign. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Amanda Jones, unsplash