Im Pflegealltag steht man oft vor zwei Möglichkeiten: Eskalation oder Deeskalation. Was macht ihr zum Beispiel, wenn eure Patienten Angst haben, vergessen zu werden?
Mir begegnen in der Pflege täglich viele Personen: Mitarbeiter, Angehörige, Bewohner. Und jeder wirft seine eigene Stimmung in den Topf – wir wirken immer. Dazu kommunizieren wir und sind dabei selten emotionslos. Aus diesem Chop Suey an Gefühlen und Eindrücken müssen wir als Fachleute in Medizin und Pflege einen Umgang formen, der gleichzeitig professionell und einfühlsam ist.
Ein Beispiel, das in meinem Haus vorgekommen ist: Frau Bayer leidet an Demenz. Sie benötigt Unterstützung einer Pflegeperson, um aus dem Bett mobilisiert zu werden. Sie hat eine Uhr neben dem Bett stehen und starrt morgens, wenn sie wach ist, unermüdlich darauf. Selten kann sie die mit ihr festgelegte Zeit einhalten. „Ich möchte mein Frühstück nicht verpassen!“ oder „Heute kommt doch der Therapeut, ich hoffe, ich bin rechtzeitig da!“ sind nicht selten Aussagen, mit denen sie das Drücken des Notrufknopfes begründet. Vielleicht ist es ziemlich eindeutig: Frau Bayer macht sich Sorgen, vergessen zu werden und sucht daher die Aufmerksamkeit auf die einzige Weise, die sie kennt. Für die Pflegeperson, die allerdings umgeben von den Leuten ist, die alle dieselbe Angst haben und auch alle gleichzeitig klingeln, ist es in dem Moment vielleicht nicht so offensichtlich.
Nun entscheidet die erste Reaktion der Pflegeperson, wie sich die folgende Situation weiter entwickeln wird.
Fall 1: Die Pflegeperson ist gestresst und kann das nicht verbergen. Sie rennt in das Zimmer, ruft Frau Bayer flüchtig zu, dass es noch dauert, oder – und das wollen wir nicht hoffen – schreit sie sogar an, dass sie doch wüsste, dass sie eine feste Uhrzeit hat. Frau Bayer ist in dem Moment verunsichert. Sie hat das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben und dieses Gefühl wird sie nicht vergessen. Vielleicht vergisst sie, welche Person reinkam, aber das Gefühl, etwas Schlechtes getan zu haben, wird sie bis zum nächsten Kontakt nicht los. Im schlimmsten Fall wird sie sich verschließen oder gar aggressiv reagieren. So ist kein kooperativer Umgang mit ihr möglich.
Fall 2: Die Pflegeperson ist ebenfalls gestresst, kann dies allerdings verbergen. Sie nimmt sich die kurze Zeit, geht ruhig auf Frau Bayer zu und erklärt ihr, dass es viel zu tun gibt und sie sich noch etwas gedulden müsse. Sobald sie aber wieder kommt, nimmt sie sich die Zeit für Frau Bayer. Vielleicht kann sich Frau Bayer nicht merken, mit wem sie in Kontakt stand, allerdings wird sie weder aufgewühlt noch gestresst zurückgelassen. Trotz der negativen Nachricht hat man ihr die positive Vorfreude auf die nächste Begegnung gegeben und sie ist damit zufrieden. Anstatt also, wie im ersten Fall, die Situation eskalieren zu lassen, hat man hier ruhig und deeskalierend eingewirkt.
Oftmals ist nicht das Entscheidende, was wir sagen, sondern wie wir es sagen. Egal ob im Umgang mit Angehörigen, Patienten oder Bewohnern: Wir sind die Fachpersonen, wir müssen professionell handeln. Und dazu gehört auch die richtige Einstellung und ihre Verkörperung.
In der Psychiatrie ist die Reflexion des eigenen Verhaltens sogar noch essenzieller, da Menschen in einer psychischen Krise noch empfindsamer für Mimik, Gestik und Stimmung sind. Dort kann schon ein schneller Schritt eine Aggression darstellen und das Verhältnis direkt verkomplizieren. Zudem wird man als ruhige und besonnene Person als Anker wahrgenommen, an den man sich wenden kann, sollte ein Problem auftreten. Gestresste und unruhige Personen wirken dagegen, als hätten sie ohnehin schon genug Probleme und werden daher selten aufgesucht. Auch das kann die Fachperson vor wichtigen Informationen verschließen – ohne, dass sie etwas davon bemerkt.
Um sich wieder kurz auf sich selbst zu fokussieren, kann es helfen, kurz vor Zimmereintritt einmal tief durchzuatmen. Man muss sich vor jedem Kontakt bewusst machen, dass diese Person nichts für die eigene Laune oder die aktuelle Belastung kann. Auch muss man sich vor Augen führen, dass ein entspannter und fröhlicher Patient oder Bewohner deutlich einfacher zur Mitarbeit zu motivieren ist als jemand, der sich auf Grund von der schlechten Stimmung verschließt. Gerade bei der Alzheimer-Demenz ist das von entscheidender Bedeutung.
Ich selbst habe unbewusst die Eigenschaft entwickelt, Bewohner bei nahezu jeder Tätigkeit, bei der die Aktion beim Bewohner liegt, zu loben. Sei es zum Beispiel bei einer Drehung zur Lagerung im Bett oder beim erfolgreichen Transfer auf den Rollstuhl mit Kinästhetik. Ein kurzes „Super!“ oder „Sehr gut gemacht!“ kann die Stimmung schnell heben und man wird als Person gerne gesehen, da man positive Stimmung verteilt. Eine Angehörige meinte sogar, sie verstehe nun, warum ich bei ihrer Mutter so beliebt bin, nachdem sie diese kurzen Motivationsansprachen mitbekommen hatte.
Das funktioniert auch bei Mitarbeitern sehr gut. Vor allem, wenn man das Gefühl hat, dass etwas im Argen liegt. Diese Person schleppt diese Laune dann den ganzen Tag vor sich her. Ein positives Erlebnis kann da helfen: Ein Lob, ein Schulterklopfen – selbst ein Lächeln wirkt ansteckend. Vielleicht kennt man es auch vom Autofahren: Wenn man eine Person in einer dicht befahrenen Straße reinlässt, ist diese Person auch eher gewillt, dasselbe bei einer anderen Person zu tun. Gute Taten und Launen wirken wie Dominosteine – sie lösen eine Kettenreaktion aus. Wem etwas Gutes widerfahren ist, der ist eher gewillt, etwas Gutes weiterzugeben.
Zum Abschluss möchte ich damit nochmals den Blickpunkt auf die Patienten und Bewohner richten: Sie sind unsere Schutzbefohlenen. Und dazu gehört nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die psychische. Gerade im Pflegeprozess ist es wichtig, ein positives Miteinander zu schaffen, da Ressourcen nur dann gefördert werden können, wenn der Patient oder Bewohner bereit ist, diese im Beisein der Pflegeperson zu nutzen. Es ist nie zu spät, um mit einem positiven Mindset anzufangen!
Bildquelle: Annie Spratt, unsplash