Könnte die Netzwerkbildung zwischen Tumorzellen und Neuronen nicht nur das Wachstum von ZNS-Tumoren anregen, sondern bei allen Krebsarten ein entscheidender Faktor sein? Dieser Frage sind Forscher jetzt nachgegangen.
Dass Hirntumoren selbst intern hierarchisch organisierte Netzwerke bilden, in Kommunikation mit Nervenzellen stehen und mit diesen ebenso Netzwerke bilden (Neuron-Gliom-Synapsen), wurde jüngst erforscht. Therapien, die dort angreifen, sind in Entwicklung. Dass solche Netzwerke auch bei allen anderen Krebsarten ein Driver für die Tumorentwicklung sein könnten, eröffnet völlig neue Therapieansätze. Krebserkrankungen wären somit pathophysiologisch neurologische Erkrankungen, schlussfolgert Prof. Wolfgang Wick.
Ein grundlegendes Thema ist die schädliche Interaktion des Nervensystems mit Tumoren – und zwar nicht nur die des zentralen Nervensystems mit Hirntumoren, sondern weit darüber hinaus. „International sind Forschende davon überzeugt, dass das Nervensystem für die Entstehung, das Wachstum und die Resistenzentwicklung von Krebserkrankungen im Gehirn und außerhalb des Gehirns eine ganz wesentliche Rolle spielt“, erklärt Wick.
Die Erkenntnis, dass neuronale Netzwerke bei der Pathogenese von Hirntumoren und -metastasen eine Rolle spielen, geht vor allem auf Forschung aus Deutschland zurück. Auf den Ergebnissen der Arbeitsgruppe um Prof. Frank Winkler und kollaborierender Forschungsteams basiert der neue Forschungsbereich Cancer Neuroscience, der verschiedene Dimensionen einer komplexen Interaktion zwischen zentralem und peripherem Nervensystem und Tumorerkrankungen beschreibt.
Um die entscheidenden zellulären Prozesse der Tumorentstehung und -ausbreitung in vivo untersuchen zu können, wurde die Methode der Zwei-Photonen-Mikroskopie weiterentwickelt. So konnten erstmals im lebenden Organismus komplexe und dynamische Interaktionen von Zellen und Signalwegen des Nervensystems und der Tumorzellen bei der Entstehung, Progression und Resistenzentwicklung von Tumorerkrankungen über lange Zeiträume und in höchster Auflösung beobachtet werden.
Die relevanten Forschungsergebnisse der letzten Jahre beinhalten die Entdeckung von kommunizierenden Tumorzellnetzwerken als zentralen Faktor der Progression von Gliomen sowie deren Resistenz, und die Nutzung neurobiologischer Signalwege durch Hirntumoren für erfolgreiches Wachstum im Gehirn. Große Bedeutung für das Tumorwachstum bzw. für die Progression und Resistenz gegenüber intensiver Chemo- und Strahlentherapie haben dabei Tumor Microtubes (TMs), die von unheilbaren Hirntumoren (Astrozytomen und Glioblastomen) gebildet werden. Dies sind extrem lange und dünne Fortsätze der Zellmembran, die Gemeinsamkeiten mit Neuriten aufweisen und das gesunde Gehirn durchdringen. Es konnten sogar zwei an der TM-Bildung beteiligte Proteine identifiziert werden (Gap43 und Ttyh1), die von der frühen Entwicklung des Nervensystems bekannt sind und offensichtlich bei der Tumorentwicklung reaktiviert werden.
Über das so gebildete Netzwerk kommuniziert der Hirntumor mit komplexen, aber offenbar hierarchisch gesteuerten interzellulären Kalziumwellen, sichert seine zelluläre Homöostase und ist zu Reparaturprozessen fähig. Es zeigte sich, dass auf diese Weise stark vernetzte Tumoren therapieresistenter sind als weniger vernetzte.
Gliomzellen kommunizieren aber nicht nur miteinander über ein TM-verbundenes Tumorzellnetzwerk – sondern auch mit gesunden Neuronen bzw. nicht malignen Zellen. So beschrieb Prof. Winklers Team (teilweise in Kollaboration mit anderen beteiligten Laboren und Wissenschaftlern) eine funktionell relevante Kommunikation von Nervenzellen und Tumorzellen mit der Bildung echter Synapsen (Neuron-Gliom-Synapsen). Es wurde auch gezeigt, dass die Neuron-Gliom-Synapsen interzelluläre Kalziumwellen generieren, die typisch für die TM-verbundenen Tumorzellnetzwerke sind.
Die wechselseitige Beeinflussung von Gehirntumoren und dem normalen Gehirn erfolgt also über direkte Signale und Stoffaustausch; die intensive calciumabhängige Kommunikation stimuliert schließlich die Proliferation und Invasion von Hirntumorzellen. Neuron-Gliom-Synapsen fanden sich in allen bisher untersuchten Tiermodellen von unheilbaren Gliomen – sowie in Patientengewebe.
Ziel der Arbeitsgruppe von Prof. Winkler ist es nun, die Archillesferse der schädlichen Netzwerkkommunikation zu finden und in neuartigen Konzepten therapeutisch anzugehen. So konnte bereits gezeigt werden, dass nur die Tumorzellen eine Bestrahlung überlebten, die Teil des Netzwerks waren – unvernetzte Zellen dagegen starben ab. Bei experimenteller Blockade dieser Signalwege entwickelten sich im Mausmodell kleinere, weniger vernetzte Tumoren, die gut auf die Bestrahlung ansprachen. Die ersten klinischen Studien mit neuartigen Substanzgruppen, die auf diesen Erkenntnissen aufbauen und die malignen Netzwerke bei rezidivierten Glioblastomen unterbrechen sollen, sind bereits auf dem Weg.
Auch die US-Wissenschaftlerin Dr. Humsa Venkatesh konnte zeigen, dass es zwischen Neuronen und Gliomzellen eine direkte elektrochemische synaptische Transmission gibt, durch die sich Gliomzellen in neurale Schaltkreise integrieren und bidirektional kommunizieren: Synaptische neuronale Aktivität depolarisiert elektrisch verbundene Gliomzellnetzwerke und diese Membrandepolarisierung induziert wiederum Ionenströme in Gliomzellen und so letztendlich die Tumorproliferation. Diese „Gap Junction“-vermittelte elektrische Übertragung ist ebenfalls ein bisher unbekannter Mechanismus des Gliomwachstums.
Die wesentliche Frage, mit der sich die Arbeitsgruppe von Dr. Venkatesh befasst, geht aber über die Gliomforschung hinaus: Welchen Dynamiken unterliegen neurale Kreisläufe, die zur Progression maligner Erkrankungen beitragen? „Meine Forschung zielt darauf ab, die Abhängigkeit des Tumors von seinem Mikroumfeld zu nutzen und die von den Krebszellen ‚gekidnappten‘ Mechanismen der neuronalen Plastizität zu unterbinden“, schreibt sie in ihrer Arbeit, die in Science veröffentlicht wurde.
Die Erkenntnis, dass sich Tumorzellen die Mechanismen der neuronalen Plastizität zu eigen machen bzw. sich durch Nervenimpulse und dadurch induzierte Membrandepolarisation selbst Proliferationsreize setzen, ist vielversprechend. Daraus ergeben sich neue Therapietargets: Es kann nun versucht werden, in diese elektrochemische Kommunikation bzw. den „Crosstalk“ einzugreifen und sie bzw. ihn zu unterbinden. Studien zur Unterbrechung der Synaptogenese von Tumorzellen laufen bereits.
„Dass die Netzwerkbildung zwischen Tumorzellen und Neuronen nicht nur Tumoren des ZNS anheizt, sondern womöglich auch bei allen Krebsarten ein Driver ist, ist ein innovativer Ansatz. Der Neuroonkologie könnte vor diesem Hintergrund in der Zukunft eine besondere Rolle zukommen – denn viele Malignomerkrankungen wären somit pathophysiologisch neurologische Erkrankungen“, schlussfolgert Wick.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der DGN. Die erwähnten Studien findet ihr im Text verlinkt.
Bildquelle: camilo jimenez, Unsplash