Demenzbehandlung braucht Zeit und Geduld – beides ist oft nicht vorhanden. Wie es besser laufen könnte, zeigt ein Beispiel aus Österreich.
Um Punkt 8 Uhr öffnet das Grazer Demenz-Tageszentrum Rosenhain – und die ersten Patienten lassen nicht lange auf sich warten. Es klingelt an der Tür. Marion Schaffernak, Leiterin des Tageszentrums sowie diplomierte Krankenschwester, und ihr Team erwarten die ersten Tagesgäste. Aber bevor die Betreuung beginnen kann, wird erst mal getestet – coronabedingt – danach gibt’s Frühstück. „Beim Frühstück wird miteinander geredet. Das ist wichtig, denn die Patienten, die Angehörigen und unser Personal müssen sich alle auf den Tag einstellen und mit Demenzpatienten ist nun mal jeder Tag anders“, erklärt Schaffernak. Regelmäßige Abstimmungen und Fallbesprechungen des Personals stehen ebenfalls an der Tagesordnung.
Tagesbetreuung für an Demenz erkrankte Menschen ist nicht nur für die Angehörigen eine große Entlastung. Auch die Patienten profitieren von den vielseitigen Therapieangeboten und Freizeitbeschäftigungen. Denn Patienten, die eine Demenz-Tagesbetreuung in Anspruch nehmen, bewerten ihre eigene Lebensqualität höher, als Patienten, die keine Betreuung in Anspruch nehmen – auch wenn in der Proxy-Bewertung keine Steigerung der Lebensqualität festgestellt werden konnte.
Außerdem konnte in einer kleinen Kohorte festgestellt werden, dass die Tagesbetreuung nach zwei Monaten zu einer Abnahme verschreibungspflichtiger Psychopharmaka beitragen konnte, während die Kontrollgruppe einen Anstieg verzeichnete. Ebenso wurden kognitive Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt. Jedoch ist die Forschung zum Effekt von Demenz-Tageszentren unausgewogen und eindeutige Ergebnisse mit großen Kohorten lassen auf sich warten.
Nach dem Frühstück geht es für die Patienten weiter zu den Gruppentherapie-Einheiten. Aber welche Gruppenaktivität ist die richtige? Die Patienten müssen natürlich kognitiv auf ähnlicher Ebene agieren können. Aber, was wahrscheinlich noch viel wichtiger ist, man muss sich auch sympathisch sein. „Dann arbeitet es sich einfach leichter – und wir setzen viel auf Humor, das ist essenziell. Uns wird auch häufig gesagt, dass man das spürt, wenn man hier hin kommt“, erzählt Schaffernak. Die Patienten werden einer Gruppe zugeteilt und starten mit einer Aktivierungsgruppe in den Tag. Die Optionen sind, unter anderem, Ergotherapie, Musiktherapie oder basale Stimulation.
Zwischen 67 % (milde Ausprägung) und 88 % (starke Ausprägung) aller Demenzpatienten entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und psychologische Symptome. Die häufigsten Symptome sind nächtliche Störungen (38 %), Depression (29 %) und abweichendes motorisches Verhalten (28 %). Für betreuendes Personal sind vor allem Wahnvorstellungen, Aggression und nächtliche Störungen beunruhigende Symptome. Viele dieser Symptome lassen sich gut durch unterschiedliche Therapieformen verbessern, die auch im Grazer Tageszentrum Anwendung finden.
„Es gibt Belege für die Wirksamkeit psychosozialer Interventionen. Effektstärken wurden für Gedächtnistherapie (d = 0,47; [2, e21]), Ergotherapie (d = 0,72; [2, e22]), körperliche Bewegung (d = 0,68; [2, e23]) und aktive Musiktherapie (d = 0,62; [e24]) veröffentlicht“, heißt es in einer Übersichtsstudie zur Therapielage bei Demenz in Deutschland. Musiktherapie brachte dann positive Ergebnisse, wenn sie an die Lebensgeschichte und Bedürfnisse der Patienten angepasst wurde.
Im Memory Tageszentrum Rosenhain werden klassische Therapien wie Ergotherapie, Musiktherapie, kognitive Aktivierungen und basale Stimulationen ergänzt durch das Konzept der Erinnerungsgruppen. „Wir schauen mit unseren Patienten Fotoalben durch, führen biografische Gespräche oder sprechen mit den Angehörigen. Was aber auch dazugehört, ist das Wiederentdecken – von Lieblingsliedern, Essen oder bestimmten Gewürzen. Wir versuchen, Erinnerungen durch Berührungen, Gerüche und taktile Eindrücke zurückzuholen. Dafür braucht es ein umfassendes biografisches Wissen und ein stabiles Personal-/Patientenverhältnis“, sagt Schaffernak. Von einem Personalschlüssel von 1 zu 3 können viele medizinische Einrichtungen nur träumen. Aber das sei ein essenzieller Bestandteil des Konzeptes, denn Demenzpatienten brauchen Stabilität.
Das Memory Tageszentrum gibt an, dass nach einem Behandlungszeitraum von mindestens 2,5 Monaten Verhaltenseigenarten durch psychobiografische Impulse verbessert (53 %) oder zumindest gehalten (46 %) werden konnten. Da sich die Daten allerdings rein auf die Patienten des Tageszentrums beziehen, fehlt hier bei einer ohnehin kleinen Versuchskohorte auch eine Vergleichskohorte. Außerdem differierte der Zeitpunkt der Evaluierung stark (zwischen 35–144 Tagen). Dennoch zeigen weitere Studien, dass nicht-medikamentöse Behandlungen von Verhaltensstörungen bei Demenz gut angenommen werden.
Im Tageszentrum Rosenhain ist jetzt Mittag. Die Gruppenaktivitäten sind beendet und die Tagesgäste bekommen ihr Mittagsessen. Wer Medikamente einnimmt, bekommt sie jetzt. „Wir arbeiten mit einem zuständigen Arzt und einer Psychologin zusammen, die eine ganzheitliche Betreuung möglich machen. Einerseits führen wir gemeinsam mit ihnen Angehörigengespräche durch. Es wird andererseits aber auch die aktuelle Medikation überprüft oder mit unseren Mitarbeitern besprochen, welche Therapieangebote bestimmten Tagesgästen noch zugutekommen könnten“, erklärt Schaffernak.
Nach dem Essen gibt’s die Möglichkeit, sich auf einer der Liegen im Ruheraum etwas auszuruhen und Kraft zu tanken für den Nachmittag. Wer darauf aber keine Lust hat, geht eine Runde spazieren, in den Garten, oder quatscht mit den anderen im Plauderraum. Danach finden weitere Gruppeneinheiten statt – diese sind meist lockerer und spielerischer gestaltet.
Das Memory Tageszentrum setzt bei der Betreuung auf das MAKS® (motorisch, alltagspraktisch, kognitiv, sozial) Konzept. Dieses Konzept konnte die kognitiven Funktionen und Fähigkeit der Patienten, aktiv am täglichen Leben teilzunehmen, stabil halten, während sie bei den Patienten in der Kontrollgruppe mit einem herkömmlichen Behandlungskonzept abnahm. „Eine hochgradig standardisierte, nicht-pharmakologische Multikomponenten-Gruppenintervention, die in einem Pflegeheim durchgeführt wurde, war in der Lage, den Rückgang der kognitiven Funktionen von Demenzpatienten und ihrer Fähigkeit, Aktivitäten des täglichen Lebens auszuführen, um mindestens 12 Monate hinauszuzögern“, so die Studienautoren. Auch in der Tagesbetreuung ist das Modell erfolgreich.
Die Gruppeneinheiten sind vorbei, es ist Nachmittag im Memory Tageszentrum Rosenhain. Die Patienten sitzen bei Kaffee und Kuchen zusammen und geben, sofern es ihnen möglich ist, Feedback an das Personal. Das Personal lässt seinerseits den Tag Revue passieren. Kurz vor 16 Uhr, die ersten Tagesgäste werden von ihren Angehörigen abgeholt oder warten auf das Sammeltaxi. Ein anstrengender und erfolgreicher Betreuungstag geht zu Ende. Aber was hat es gebracht?
„Demenzerkrankte Menschen brauchen und verdienen einen Ort, an dem sie sich wohl fühlen. An dem sie mit gleichgesinnten in Interaktion treten können und so sein können, wie sie sind – damit sie wissen ‚so wie ich bin, bin ich gut‘. Durch die tageweise Therapie und medizinische Betreuung wird es den Patienten ermöglicht, so lange wie möglich zu Hause bleiben“, sagt Schaffernak. „Denn wenn die Worte immer weniger werden und die Gefühlswelt der Menschen in den Vordergrund rückt, braucht es für diese Menschen jemanden, der sich auf ihre Gefühlswelt einlassen kann und will – genau hier beginnt die Wichtigkeit von Demenz-Tageszentren.“
Bildquelle: Jon Tyson, Unsplash