Der Giftapfel in Schneewittchen, der Deutschen liebste Knolle und ein potenziell tödliches Fischgericht – sie alle eint die Neurotoxikologie. Hier stelle ich euch meine Lieblingsgifte vor.
„Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut, Haare so schwarz wie Ebenholz.“ Dieses Zitat kommt euch bekannt vor? Es entstammt dem Märchen Schneewittchen. Darin wurde die Hauptfigur mit einem vergifteten Apfel in einen todesähnlichen Zustand versetzt, aus dem sie erst durch den Kuss eines Prinzen wieder erwachte. Aber gibt es im echten Leben eine wahre Inspiration für ein solches Gift? Lasst uns in den folgenden Zeilen gemeinsam in die faszinierende Welt der Neurotoxikologie eintauchen, um der Vergiftung von Schneewittchen auf die Spur zu kommen.
Würdet ihr mich fragen, was ich von der Neurotoxikologie halte, würde ich wahrscheinlich antworten: „Das ist die spannendste Richtung innerhalb der Toxikologie.“ Allerdings bin ich, was die einzelnen toxikologischen Disziplinen angeht, sehr leicht begeisterungsfähig. Superlative rutschen mir hier allzu oft aus dem Mund.
Unstrittig ist allerdings, dass die Neurotoxikologie ein besonders faszinierender Zweig der Toxikologie ist. Wir beschäftigen uns hier mit Neurotoxinen, also mit Giften, die sich direkt oder indirekt schädigend auf das Nervensystem auswirken. Eine indirekte Wirkung kann beispielsweise auf einer durch Neurotoxine verursachten grundlegenden Störung der Elektrolytverteilung im Körper erfolgen. Diese Elektrolyte sind essenziell für die Funktion der Nervenbahnen in unserem Körper. Eine Störung der generellen Verteilung im Körper kann deshalb zu eingeschränkten Funktionen der Nerven führen. Warum ist diese Wirkung auf das Nervensystem nur indirekt? Sie wird nicht durch eine direkte Interaktion eines Giftes mit den Nervenbahnen ausgelöst, sondern beispielsweise durch eine Interaktion mit der Darm-Barriere, was die Aufnahme der Elektrolyte in den Körper erschwert. In erster Linie würde das Gift also direkt den Durchtritt durch die Darm-Barriere beeinflussen. Und nur nachgelagert – und damit indirekt – zu einer Beeinflussung unserer Nervenbahnen führen.
Direkt neurotoxisch agierende Toxine hingegen beinhalten eine feinsinnige und diabolische Genialität. Wie dem Masterplan eines bösen Superschurken folgend, greifen sie spezifisch in die orchestrierten Prozesse unseres Nervensystems ein.
Um zu verstehen, wie ein Giftstoff direkt auf das Nervensystem wirken kann, müssen wir uns – zumindest grob – die Funktion von Nervenbahnen verdeutlichen. In unserem Körper gibt es viele verschiedene Zelltypen. Einer davon ist die Nervenzelle, auch Neuron genannt. Alle Neuronen sind elektrisch erregbar. Diese elektrische Erregung wird an einem Ende der Nervenzelle empfangen, durch die langgestreckte Zelle weitergegeben und an anderer Stelle der Zelle zum Beispiel auf eine nächste Nervenzelle oder eine Muskelzelle weitergegeben.
Grob vereinfacht kann man sich aneinandergereihte Nervenzellen wie ein Kabel vorstellen, das elektrische Signale im Körper von einer Stelle an eine andere Stelle weiterleitet. Die Zellen verwenden hierfür unterschiedlich geladene Ionen, wie positiv geladenes Natrium und Kalium, sowie negativ geladenes Chlorid. Das Zusammenspiel dieser Ionen bildet ein elektrisches Potential, das je nach Zustand grob gesprochen zwischen +30 mV und -90 mV variiert.
Sobald dieses elektrische Signal von einem Ende der Nervenzelle am anderen ankommt, trifft es dort auf einen kleinen Spalt zwischen der aktuellen und der nächsten Zelle. Um das Signal über diesen Spalt weiterzugeben, werden Neurotransmitter verwendet. Dies sind Botenstoffe, die eine Botschaft (hier das elektrische Signal) von einer Zelle über den Spalt hinweg zu einer anderen Zelle transportieren. Erreicht ein elektrisches Signal das Ende einer Nervenzelle, setzt es die dort gespeicherten Neurotransmitter frei.
Diese überqueren dann den Spalt zwischen zwei Zellen und binden am Ende des Spaltes an Rezeptoren der nachgelagerten Zelle. Je nachdem, welcher Neurotransmitter an welchen Rezeptor bindet, kommt es zu hierdurch ausgelösten Aktionen. Beispielsweise kann es einfach zum Aufbau eines neuen elektrischen Signals an der nachgeschalteten Nervenzelle kommen, das dann wieder die Zelle entlangwandert – also zu der Kabelfunktion, bei der Signale von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergeleitet werden. Es kann aber auch, wenn es sich bei der nachgeschalteten Zelle um eine Muskelzelle handelt, zu einer Kontraktion eines Muskels kommen.
Einer der wichtigsten Neurotransmitter, den wir im Körper haben, ist Acetylcholin. Es spielt unter anderem eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zu einer Muskelzelle.
Kommt ein elektrisches Signal am Ende einer Nervenzelle an, kann Acetylcholin in diesen Spalt zwischen zwei Zellen ausgeschüttet werden. Es wandert daraufhin an das andere Ende des Spaltes zur Muskelzelle und bindet dort an die für Acetylcholin geeigneten Rezeptoren. Dies löst eine Kaskade weiterer Reaktionen aus, an deren Ende die Kontraktion eines Muskels stehen kann. Grob vereinfacht können wir hier festhalten: Je mehr Acetylcholin vorhanden ist, desto stärker kontrahiert sich der Muskel. Deshalb ist es in der Regel wichtig, dass das Acetylcholin auch schnell wieder verschwindet, da es ansonsten zu einer dauerhaften Kontraktion des betreffenden Muskels kommt. Für den Abbau von Acetylcholin ist ein Stoff mit dem Namen Acetylcholinesterase verantwortlich. Acetylcholinesterase agiert wie eine Schere und zerschneidet das Acetylcholin – die Kontraktion des Muskels endet.
Esst ihr gerne Kartoffeln? Wir Deutschen scheinen ja ein geradezu fetischistisches Verhältnis zu dieser leckeren Knolle zu haben. Gemäß dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft verzehrte jeder deutsche Bundesbürger im Wirtschaftsjahr 2020/21 ganze 59,4 Kilogramm Kartoffeln. Aber so gesund sie auch sind, enthalten sie doch ein Gift: Solanin. Reife, gelbliche Knollen enthalten zum Glück nur sehr wenig davon. Kritischer ist es jedoch, solange die Kartoffeln noch grün sind oder wenn sie bereits gekeimt haben. Dann steigt die Menge an Solanin an.
Und genau dieses Solanin blockiert die Acetylcholinesterase und hemmt somit den Abbau von Acetylcholin. In unserem obigen Beispiel kommt es dann zu einer dauerhaften Muskelkontraktion. Je nachdem, wie stark diese Kontraktion ist und wo im Körper sie ansetzt, können einige unschöne Dinge, wie eine Beeinflussung unserer Atem-Muskulatur, die Folge sein. Generell geht man davon aus, dass eine 60 kg leichte Person ca. 300 g Kartoffeln verzehren muss, damit erste leichte Vergiftungserscheinungen auftreten können. In der Regel (abhängig vom tatsächlichen Solanin-Gehalt in den Kartoffeln und der individuellen Biochemie der betroffenen Person) können aber auch größere Mengen unbedenklich verzehrt werden.
Ich will euch noch ein weiteres faszinierendes Neurotoxin vorstellen, diesmal aus der Tierwelt. Der Kugelfisch ist etwas ganz Besonderes. Zum einen schaut er im Normalzustand durch seine rundliche und gedrungene Gestalt wirklich besonders putzig aus. Zum anderen kann er sich bei Gefahr aufplustern und ähnelt dann eher einem skurrilen Ballon mit Augen als einem typischen Fisch. Zusätzlich (jetzt kommen wir endlich zum Casus knacksus des Ganzen) enthält der Kugelfisch ein potentes Gift, das Tetrodotoxin. Trotz des Giftes – oder gerade deswegen – wird der Kugelfisch vor allem in Japan als Delikatesse gehandelt. Da es immer wieder zu Todesfällen nach Verzehr kommt, dürfen nur speziell ausgebildete Köche diesen Fisch zubereiten. Ich selbst habe Kugelfisch nie gekostet, habe mir aber sagen lassen, dass er recht unspektakulär schmeckt. Das Besondere an der Mahlzeit sei, dass der Mund aufgrund des Giftes kribbelt und taub würde. Für mich hört sich das ja eher nach Zahnarztbesuch (und deshalb reichlich unattraktiv) an, aber die Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.
Tetrodotoxin ist auf alle Fälle – ihr ahnt es bereits – ein Neurotoxin. Es blockiert spezifisch Natrium-Kanäle, zuständig für den Transport von Natrium-Ionen, in den Nervenzellen. Da diese Natrium-Kanäle essenziell für die elektrische Erregung sind, entfällt diese, wenn das Tetrodotoxin die Natrium-Kanäle blockiert. Die Nervenzellen bauen demnach kein elektrisches Potential auf und leiten auch keine elektrischen Signale weiter. Folglich entfällt auch die Muskelaktivität, da die Muskelzellen für ihre Aktivität ja ein Signal von den Nervenzellen benötigen. Im schlimmsten Fall sind die betroffenen Personen gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein. Ein Versterben an ausbleibender Atmung und Herzstillstand kann die finale Folge sein.
Kommen wir zurück zu Schneewittchen. Im Märchen verspeist sie einen vergifteten Apfel und fällt in einen todesähnlichen Zustand. Erst der Kuss eines Prinzen erweckt sie wieder. Verknüpfen wir nun unser Wissen über Neurotoxine mit unserer Erfahrung aus unzähligen Tatort-Folgen, liegt folgender Schluss nahe: Der Apfel könnte mit dem Gift des Kugelfisches versetzt gewesen sein. Eine geringe (nicht tödliche) Dosis kann zu einer Paralyse von bis zu 20 h führen. Unter Umständen dauert es dann bis zu einer Woche, bis alle Körperfunktionen wieder hergestellt sind. Und wer weiß, der Anblick der großen Liebe kann durchaus zu einem aufputschenden Hormonschub führen.
Okay, der Tatort-Nerd könnte sich nun fragen, wie die böse Königin an das Gift des Kugelfisches kam. Das überlasse ich ganz eurem kriminalistischen Gespür. Ich freue mich auf spannende Theorien in den Kommentaren.
Bildquelle: Zachary Kadolph, unsplash