Was erwarten wir vom Altwerden – und wie gehen wir mit Patienten um, die zu Hause nicht mehr klarkommen, im Heim aber auch nicht glücklich sind? Mir fehlt eine Diskussion über die Alternativen.
Manchmal gibt es Umfragen, bei denen ich mich schon frage, wer die konzipiert hat. Denn es ist immer wieder beeindruckend, wie sehr komplizierte Fragestellungen in simple Fragen gepresst werden und daraus dann auch noch Forderungen abgeleitet werden. Eines der jüngsten Beispiele findet ihr hier.
Es wurde gefragt, wo die Mehrheit der Deutschen im Alter gepflegt werden wolle. „89 Prozent gaben in einer repräsentativen Umfrage für die Deutsche Stiftung Patientenschutz an, im Bedarfsfall zu Hause von Angehörigen oder Pflegekräften versorgt werden zu wollen. Nur neun Prozent würden eine Pflegeeinrichtung bevorzugen.“
Da es in der Umfrage auch darum ging, ein Meinungsbild bezüglich der geplanten Gesetzesvorlagen zur begleitenden Suizidbeihilfe zu bekommen, wurde in einer zweiten Frage erhoben, wer, wenn es zu Hause nicht mehr geht, eine solche Suizidbeihilfe in Anspruch nehmen würde. „Dass 30 Prozent dagegen eine Beihilfe zur Selbsttötung wählen würden, bezeichnete Patientenschützer und Stiftungsvorstand Eugen Brysch als dramatisch.“
Also ganz ehrlich: Mich wundert das nicht, aber ich glaube auch, dass wir da eine etwas differenziertere Diskussion führen müssen, als dies in zwei Fragen der Fall sein kann. Denn da gibt es meiner Meinung nach auch ein paar Aspekte mehr zu berücksichtigen, als man in zwei Fragen (die noch irgendwie verständlich sein sollen) beantworten kann.
Wie möchte man altern und sterben? In der heutigen Zeit wird großer Wert auf Funktionieren gelegt und darauf, wie viel Leistung man erbracht hat bzw. erbringt. Und ja, so viele Fortschritte, wie unsere Medizin in den letzten Jahrzehnten auch gemacht hat – wirklich den Alterungsprozess aufhalten können wir schlichtweg nicht. Weshalb mir viele Patienten durchaus auch ganz offen sagen: „Alt werden ist nichts für Feiglinge“ (Zitat wohl von Joachim Fuchsberger).
Man muss sich mit immer stärkeren Einschränkungen und mehr oder weniger vielen Hilfsangeboten auseinandersetzen und das passt nicht zum Bild der Selbständigkeit und des Funktionierens, wie man es die ersten 70, 75 Jahre gepflegt hat. Meiner Erfahrung nach tun sich gerade Männer sehr schwer damit, wenn sie eben nicht mehr alles lösen können, sondern z. B. das Nachlassen der Seh- oder Körperkraft dazu führt, dass sie schlichtweg auf Hilfe von außen angewiesen sind. Und irgendwann auch bei der Körperpflege und dem Toilettengang – was dann auch sehr schambesetzt ist.
Wohlgemerkt: Bislang rede ich ausschließlich von körperlichen Einschränkungen. Eine beginnende Demenz verkompliziert das Ganze noch massiv. Denn dann wird gerade wechselndes Personal (was ja genau in dem Kurzzeitgedächtnis, was meistens zunehmend schlechter wird, gespeichert werden müsste) eher als andauernd neue Fremde wahrgenommen. Oftmals kommt dann auch ein mehr oder weniger ausgeprägtes Misstrauen dazu. Die Angehörigen werden ja noch länger erkannt (über das meist noch länger intakte Langzeitgedächtnis), aber die können die ganze anfallende Pflegearbeit schlichtweg nicht leisten. Sie sind (meistens) weder dafür ausgebildet, noch können sie es finanzieren, statt ihres Jobs die Care-Arbeit für den Angehörigen zu übernehmen. Es ist emotional auch hochbelastend, einen geliebten Menschen bis zum Ende zu pflegen – oft über Jahre.
Ich kenne durchaus viele, die das (durch-)gemacht haben. Aber die sagen auch fast alle, dass sie das selbst ihren Angehörigen nicht antun wollen, eben weil es so heftig ist. Denn die Angehörigen, die das Ganze stemmen sollen, werden in der Fragestellung außen vor gelassen. Einer alleine kann das faktisch nicht leisten – einen dementen Patienten zu pflegen, geht oft sogar über einen Vollzeit-Job hinaus, da gerade nachts viele unruhig sind und man selbst dann gar keine Ruhe mehr bekommt.
Was würde passieren, wenn man die Angehörigen befragt? Mit diesem Wunsch der Patienten konfrontiert, würden viele Angehörige es natürlich versuchen wollen mit der Pflege – aber viele zerbrechen auch an den Anforderungen.
Das sehen wir auch in der Arztpraxis. Ich habe in den letzten Wochen wieder einige Patienten bis zum Tod begleitet. Eine davon war Ende 80, das Verhältnis zu den Kindern eher getrübt, aber sie konnte sich bis kurz vor Schluss noch zu Hause mit wenig Hilfe von der Nachbarin selbst versorgen. Sie war geistig noch komplett klar. Als sie akute Bauchschmerzen bekam (Verdacht auf Ileus) und ich ihr sagte, dass sie dafür ins Krankenhaus müsse oder es wäre wohl das Ende, sagte sie mir sehr klar: „Lieber heute als morgen, sorgen Sie bitte nur dafür, dass ich keine Schmerzen haben muss.“ Sie hatte auch bei den letzten Hausbesuchen zuvor meinem Chef gesagt, dass sie unter keinen Umständen ins Krankenhaus möchte und wie wichtig ihr Schmerzfreiheit sei. Das war ein Wunsch, den wir ihr gut erfüllen konnten und sie ist dann genau so zu Hause gestorben, wie sie sich das gewünscht hat. Aufgrund des akuten Krankheitsbildes war es dann auch binnen 48 Stunden zu Ende.
Bei sehr vielen anderen Patienten ist das alles deutlich komplizierter. Weil es nicht ein akutes Ereignis gibt, was dann schnell zum Tode führt, sondern weil es immer weiter etwas schlechter wird und es irgendwann einfach nicht mehr wirklich machbar ist zu Hause. So einen Patienten hatte ich jetzt auch, der mehrfach immer wieder in Kurzzeitpflege musste (wegen körperlicher Gebrechen und zunehmender Demenz). Nach einem Krankenhausaufenthalt bei einer Lungenentzündung war er wieder in Kurzzeitpflege gelandet. Die Tochter wirkte ziemlich überfordert, die normalerweise betreuende Hausärztin fiel wegen Erkrankung selbst längerfristig aus, die Pflege beklagte sich, dass der Patient teilweise nach ihnen schlagen würde, wenn sie versuchen, ihm zu helfen. Denn auch wenn sie sich Zeit nahmen – für ihn waren es immer wieder Fremde – und deren Hilfe wollte er nicht. Das ist dann auch Realität.
Verkompliziert wird sowas dann noch, wenn z. B. der Blutzucker gemessen werden muss, was immer wieder Stiche/Schmerzen bedeutet. Zumindest nach meinem Gefühl sind diese langsam schlechter werdenden Patienten eher die Mehrzahl und nur bei wenigen Patienten geht es so schnell, wie bei der erstgenannten Dame.
Um das nochmal klar zu stellen: Das soll keine Relativierung des Pflegenotstands sein – der Pflegenotstand ist eine Katastrophe und macht es alles noch schlimmer. Aber es lassen sich auch nicht alle Probleme mit mehr Pflegekräften lösen.
Wir Hausärzte versuchen dann, nach Kräften zu helfen. Manchmal (gerade bei Patienten, die wir langfristig betreuen) sind wir dann das bekannte Gesicht, das für ein bisschen mehr Ruhe sorgt. Manchmal sind Medikamente notwendig. Und auch manchmal einfach nur ein offenes Ohr – speziell für Angehörige, die mal Dampf ablassen müssen. Aber man muss ganz ehrlich sagen: Auch wir können nur versuchen, die Situation nach Kräften zu verbessern. Richtig „gut“ machen können wir es meistens nicht.
Was ist also die Lösung? Ich denke schon, dass wir uns überlegen müssen, was realistische und unrealistische Ziele sind im Bereich des Älterwerdens. Natürlich müssen Mängel wie der Pflegenotstand dringend in Angriff genommen werden. Aber das ändert z. B. an der Demenz nichts und auch nichts daran, wie schwierig es ist, sich im Alter mit seinen körperlichen Einschränkungen abzufinden. Das sind Probleme, die nicht ohne weiteres mit Geld zu beheben sind. Und ja, diese Diskussionen müssen wir auch führen. Wie wollen wir altern? Wie gehen wir mit dem Lebensende um? Ich bin da auch gern für Beiträge in den Kommentaren dankbar.
Denn ohne solche Diskussionen bleibt es bei kurzen Aufregern wie der o. g. Umfrage, aber so richtig weiter kommen wir nicht. Und dann bleibt nur als (ziemlich schale) Quintessenz:
„Alle wollen alt werden, aber keiner will es sein.“ Gustav Knuth
Bildquelle: Matt Bennett, Unsplash