Die Ampel-Koalition will den Fallpauschalen ans Leder und sie will ambulantisieren, was das Zeug hält. Doch viele Ärzte sind entsetzt über das, was kommen könnte.
Großer Auftritt des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach dieser Tage im ARD Hauptstadtstudio. Es ging ausnahmsweise nicht um Covid, sondern um den problematischen Allgemeinzustand der deutschen Krankenhäuser. Dazu klare Worte von Lauterbach: „Wir brauchen tatsächlich eine große Krankenhausreform, daran arbeiten wir.“ Wie diese Reform aussehen soll, das ist weiterhin Spekulation. Die Regierungskommission Krankenhaus kümmere sich darum, so der Minister, bevor er dann doch noch einen kleinen Einblick gab: „Wir wollen das Fallpauschalensystem überwinden. Die Regierungskommission arbeitet an einem Vorschlag, [mit dem] das gesamte Fallpauschalensystem neu aufgestellt werden soll, möglicherweise überwunden wird.“
So deutlich hatte er bis dahin noch nicht gesagt, dass das in der (ungewöhnlich rigiden) deutschen Ausprägung von ihm einst entscheidend – und gegen den Willen weiter Teile des Gesundheitssystems – mitinitiierte DRG-System grundlegend verändert werden muss. Die Vorwürfe sind so alt wie das DRG-System selbst: Es setzt problematische Anreize, die wenig mit Qualität und viel mit Effizienz um jeden Preis zu tun haben. Und das (damalige) Ziel, die stationären Liegezeiten zu verkürzen, haben andere Länder mit weniger radikalen Reformen genauso erreicht wie Deutschland mit seinem Sonderweg.
Inwieweit die vom Minister bewusst wissenschaftlich besetzte Regierungskommission Krankenhaus als Reformarchitektin das bestmögliche Gremium für die große Reform ist, das ist ein bisschen umstritten. Insbesondere seit den Empfehlungen dieser Kommission zum Thema Ambulantisierung gibt es vielerorts Zweifel: Wird einer Gesundheitswesenszukunft, die vor allem intersektoral sein soll, mit einer Kommission ein Gefallen getan, der intersektorale bzw. ambulante Expertise weitgehend abgeht?
Eine der interessantesten und kritischsten Stellungnahmen zu den Kommissionsvorschlägen kommt von OcuNet. Das ist ein Verbund vollversorgender augenmedizinischer Facharztzentren, die entweder als MVZ oder als überörtliche Berufsausübungsgemeinschaften organisiert sind. OcuNet Zentren versorgen deutschlandweit rund 10 % aller ambulanten, ophthamologischen Patienten – sowohl konservativ als auch ambulant-chirurgisch.
Die Krankenhauskommission schlägt konkret vor, dass Krankenhäuser „ab spätestens 1.1.2023 […] sämtliche bislang vollstationär erbrachten Leistungen als Tagesbehandlung“ erbringen können. Das, so OcuNet, werde die Ambulantisierung eher verlangsamen als beschleunigen. Erfolgreiche, vertragsärztliche OP-Zentren würden geschwächt. Es würden Effizienz- und Kostenargumente ignoriert und Patientenwünsche übergangen.
Insbesondere interessieren sich die wissenschaftlichen Politikberater praktisch gar nicht für den Katalog für ambulantes Operieren (AOP) nach §115b. Dieser, so die Kommission, habe keine relevanten Auswirkungen auf das Gesundheitssystem gehabt. Das aber ist zumindest grob unvollständig, und keiner weiß das besser als die ambulanten Augenärzte. Die führen nämlich mittlerweile rund 90 Prozent aller Kataraktoperationen durch, also Linsenoperationen wegen Grauem Star. Rund 900.000-mal wird diese Operation pro Jahr in Deutschland erforderlich, wir reden also über mehr als 800.000 ambulante Katarakt-Operationen. „Diese Operationen kosten ambulant nicht einmal die Hälfte von dem, was sie stationär kosten“, betonte eine OcuNet-Sprecherin im Gespräch mit den DocCheck News.
Es gibt Berechnungen, wonach das deutsche Gesundheitswesen allein durch die erfolgreiche Ambulantisierung der Katarakt-OP Einsparungen in dreistelliger Millionenhöhe generiert. Was die Katarakt-OP zu einer der wenigen großen Erfolgsgeschichten der Ambulantisierung gemacht hat, waren nicht die Krankenhäuser. Die haben sich, im Gegenteil, dagegen gewehrt. Erfolgskritisch gewesen seien, so OcuNet, vielmehr politischer Druck und anfängliche finanzielle Anreize, damit entsprechende ambulante OP-Kapazitäten entstehen konnten. „Die Krankenkassen wollten das damals, das war der entscheidende Punkt“, so die Sprecherin zu DocCheck. Konkret wurden in den ersten Jahren recht großzügige Pauschalen gezahlt. Und es gab und gibt auf KV-Bezirksebene Sachkostenverträge, die die Verbrauchskosten abdecken.
Bei anderen Eingriffen, die auch ambulant möglich sind, könnte im Prinzip ähnlich verfahren werden. Aber genau das passiert nicht. Es kümmert sich schlicht niemand darum. Die einzelnen Lobbys der ambulanten Ärzte sind nicht stark genug, und auf Seiten der Krankenkassen finden sich keine Treiber. Deutlich machen lässt sich das erneut an der Augenheilkunde: Es gibt durchaus AOP-Ziffern auch für andere augenchirurgische Eingriffe jenseits der Katarakt-OP, beispielsweise für die Glaukom-OP, die mit 3-400 Euro dotiert ist. Was es beim Glaukom nicht gibt, sind Vereinbarungen, die die Sachkosten in Höhe von rund 1.000 Euro abdecken. Nur deswegen wird das Glaukom im Wesentlichen stationär operiert, denn im Krankenhaus ist die DRG- und OPS-basierte Erstattung großzügig genug.
Letztlich scheitert Ambulantisierung bei Krankenhauseingriffen, so scheint es, an der Komplexität. Es geht um eine große Zahl an kleinen Operationen, die im Prinzip separat verhandelt werden müssten, was aber niemand macht. In einigen Fällen finden sich Selektivvertragspartner, die etwas umsetzen, aber das ist oft Glückssache und eben auch nicht flächendeckend. Ein anderer Faktor dürfte sein, dass die politische Bereitschaft, Krankenhausbetten parallel zu einer Ambulantisierung zu reduzieren, bisher nicht sehr ausgeprägt war. Bleibt man an dieser Front untätig, dann besteht die Gefahr, dass das passiert, was Krankenkassen offenbar befürchten, nämlich dass jedes dank Ambulantisierung freiwerdende Bett prompt anderweitig belegt wird und deswegen am Ende nichts eingespart wird.
Insgesamt fällt die Bilanz ziemlich ernüchternd aus: Es fehlt politischer Wille. Während das Interesse des Gesetzgebers, die Krankenhäuser zu schützen, klar erkennbar ist, spielt der ambulante Sektor allenfalls als Schauplatz der Primärversorgung eine politisch-gedankliche Rolle. Dass das früher oder später auf ein System hinausläuft, das in vielem eher einem britischen NHS ähnelt, wird nicht laut ausgesprochen. Gleichzeitig ist mehr als fraglich, ob die simple Option einer Tagesbehandlung für Krankenhäuser zu einer relevanten Ambulantisierung führt. Denn die Kliniken erhalten ja weiterhin mehr Geld für eine stationäre Versorgung. Und sie müssten für eine Positionierung als ambulant-tagesklinische Versorger massiv an die eigenen, internen Versorgungsprozesse rangehen. Ob Kliniken das freiwillig machen?
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