Auf diese Frage gibt es für mich eine eindeutige Antwort. So viel vorab: Wir haben ein systemisches Problem. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, wird Medizin zum Luxusprodukt.
Warum ist das Gesundheitssystem so kaputt, wie man es überall lesen kann? Hat das mit Corona zu tun? War das nicht schon vorher so? Und wäre das Gesundheitssystem nicht auch ohne Corona kaputtgegangen?
Solche Frage werden gerne von Leuten gestellt, die ohnehin der Meinung sind, dass Schutzmaßnahmen und Infektionsprävention sinnlos sind. Sie verfehlen nur den ganz wesentlichen Kern des Problems: Den Menschen kann es komplett egal sein, ob das Gesundheitssystem wegen einer Pandemie, eines Rechenfehlers oder menschlichem Versagen in politischen Entscheidungen zugrunde geht. Es geht kaputt. Und Gesundheit ist das Wertvollste, was wir haben. Ohne Gesundheit ist alles nichts.
Schon weit vor Corona gab es deutliche Zeichen der Überlastung des Gesundheitssystems: zu wenig Nachwuchs, Personalmangel bei den Pflegekräften, Investitionsstau bei den baulichen Strukturen der Kliniken und vieles mehr.
Das war alles vor Corona.
Sinnbildlich sind wir mit einem Auto gefahren, dass im TÜV erhebliche Mängel attestiert bekam, das auf abgefahrenen Reifen fuhr, bei denen das Stahlgewebe durchkam und von dem alle wussten – lange macht es das so nicht mehr.
Dann kam Corona und es war, als hätte sich ein wild gewordener Teenie hinters Lenkrad gesetzt, um die Karre nochmal auf der Autobahn auszufahren. Es wurden letzte Kräfte mobilisiert und wir hatten die Hoffnung, dass wenn nur alle geimpft sind, wieder bessere Zeiten kommen würden. Wir hofften auf Investitionen, Förderprogramme, Bildungsangebote, die Rekrutierung von Fachkräften. Was wir aber bekamen waren Ehrenpflegas, Lavendel und Klatschen vom Balkon.
Viele Leute mit Talent und Fachwissen sind gegangen und werden einen Teufel tun, in dieses kaputte System zurückzukommen. Wir arbeiten also mit einer extrem ausgedünnten Personaldecke und mit Personal, welches zu einem ganz wesentlichen Teil aus Berufsanfängern besteht – die noch dazu meist eine sehr abgespeckte Form von Ausbildung erhalten haben. Viele praktische Anteile wurden „wegen Corona“ gestrichen. In der Praxis zeigen sich diese Defizite massiv.
Wo ist denn das Labor? Wo sind die EKs? Wie holt man die? Ich wusste nicht, dass man dafür eine Transportbox braucht. Warum müssen die gekühlt sein? Welchen Zettel? Was soll ich da im Computer anklicken? Wo sind die Bedsidetests? Wir arbeiten hier in einem hochspezialisierten Bereich mit kritisch kranken Patienten und es gibt einen Grund, warum die Ausbildung so langwierig und anspruchsvoll ist.
Hier waren jetzt schon mehrfach Schüler aus der Krankenpflegeschule, von denen Ärzte und Pflegekräfte unisono der Meinung waren, dass sie für den Job nicht geeignet sind. Immer wieder sehen wir massive Sprachprobleme, aber auch Auffassungs- und Umsetzungsprobleme, fehlende Bereitschaft, Dinge nachzulesen oder nachzuarbeiten, fehlendes Grundwissen absoluter Basics (sicher auch ein Problem der deutlich schlechteren Lehre der letzten Jahre). Aber oft auch einfach mangelnde kognitive Fähigkeiten – und das entwickelt sich zu einem Flächenbrand. Ich überschaue hier nur die Präklinik (den Rettungsdienst mit den Notfallsanitätern und den Notärzten), die Notaufnahme, den OP und die Intensivstation. Was ich da sehe, reicht mir aber, um sagen zu können: Die Patienten sind sehr oft nicht mehr ausreichend versorgt.
Sie sind schon lange nicht mehr gut versorgt, sie sind auch nicht mehr befriedigend versorgt. Und so wie es jetzt ist, sind sie nicht mal mehr ausreichend versorgt.
Wir sehen massive Pflegemängel. Hygienische Fehler (offene Konnektoren von zentral liegenden Gefäßen), eitrige Gefäßzugänge, gammelige Pflaster, die lose von der Haut baumeln, infizierte OP-Wunden wegen nasser Verbände, deren Wechsel zwar dokumentiert, aber nicht durchgeführt wird. Medikationsfehler bei der Erfassung oder Übertragung der Medikamente (trotz digitaler Systeme!) sind genauso an der Tagesordnung wie falsch oder zu spät angeordnete Untersuchungen. Konsile werden teilweise Tage später oder gar nicht durchgeführt.
Und wer auf Twitter oder anderswo mal in den ambulanten Bereich reinhört, bei Ärzten und MFAs, die berichten, wie es da so läuft, bekommt ein ähnliches Bild. Das alles ist kein Zukunftsszenario, das ist alles längst da.
Redet mal mit Leuten, die im Rettungsdienst oder in einer Arztpraxis oder im Krankenhaus arbeiten, falls ihr welche kennt. Es ist überall dasselbe Problem. Zu wenig Personal, zu schlecht ausgebildet, zu viele Patienten. Wenn jetzt wegen Corona Mitarbeiter ausfallen und gleichzeitig mehr Patienten behandelt werden müssen, bedeutet das eine weitere Verschärfung. Logisch, oder?
Natürlich reicht es nicht, Schutzmaßnahmen zu fordern, um dieses marode System noch ein bisschen länger auf dem kaputten Reifenmantel schleifen zu lassen. Aber es wäre ein Signal aus der Politik und der Gesellschaft: Okay, wir haben euch gehört. Ihr könnt nicht mehr. Ihr garantiert uns das Wertvollste, was wir haben – Gesundheit. Wenn es dafür besser ist, dass weniger Leute krank werden, versuchen wir gemeinsam alles, um dieses Ziel zu erreichen! Das wäre zumindest ein wesentlich stärkeres und auch wirksameres Signal als Klatschen und Lavendel.
Stattdessen kann man sich natürlich auch weiter in die Tasche lügen, dass Masken sinnlos wären und man nichts machen könne. Wir haben es ja nie wirklich versucht, FFP2 flächendeckend in Innenräumen verpflichtend zu machen. Es gab 1.000 Ausnahmen, den Plexiglasirrsinn, Maskenatteste und Nasenpimmel. Nur, um am Ende zu sagen – da, hat nichts gebracht. Erst dann, wenn die Menschen erkennen: Fuck, wir sind geliefert! Erst dann werden Menschen wieder Schutzmasken tragen und Infektionen vermeiden, weil sie wissen, dass ihnen niemand mehr helfen kann, wenn sie wirklich Luftnot haben. Dann werden auf einmal passende Masken getragen, die dicht sitzen und einen echten Schutz bieten.
Aber warum muss es erst so weit kommen? Es sollte doch reichen, wenn wir sagen: Wir können schon längst nicht mehr allen gut helfen. Es reicht nicht mal für eine befriedigende Versorgung.
Und natürlich muss der nächste Schritt sein, dass wir eine massive Reform des Gesundheitswesens brauchen. Übrigens in der Form, wie ich es momentan weder den Krankenkassen, noch den kassenärztlichen Vereinigungen, geschweige denn dem Bundesgesundheitsministerium zutraue. Das ist ein Jahrhundertakt und wenn ich sehe, dass diese Gremien schon an wesentlich kleineren Aufgaben scheitern, habe ich keine Hoffnung mehr, dass ich das erlebe.
Aber wie so vieles andere wird sich auch das irgendwie von selbst regeln. Die Superreichen werden sich in ihre Privatkliniken zurückziehen und dort deutsche Spitzenmedizin auf höchstem Niveau genießen. Für andere bleibt eine Basisversorgung übrig, die nicht mal mehr das Wort Basisversorgung verdient hat.
Bildquelle: Ansgar Scheffold, Unsplash