Kaum ein anderer Lebensabschnitt ist so sensibel wie die Schwangerschaft. Das gilt besonders im Hinblick auf Medikation. Zwei aktuelle Studien nehmen Paracetamol und Antidepressiva unter die Lupe.
Auch 60 Jahre nach dem Contergan-Skandal gäbe es noch zu viele risikobehaftete Arzneimittelverordnungen in der Schwangerschaft, wie die Barmer in einer Studie feststellte. Im Jahr 2018 hätten alleine in Berlin 46.000 Frauen Medikamente in der Schwangerschaft verschrieben bekommen, die potentiell teratogen sind. Bundesweit betreffe das 1,3 Millionen Frauen. Oft erfahren Frauen erst dann von ihrer Schwangerschaft, wenn sie bereits Medikamente eingenommen haben, die dem heranwachsenden Kind schaden können.
Generell nimmt die Schwangerschaft in der Medikamentenverordnung eine Sonderstellung ein. Fakt ist aber auch, dass eine schwangere Patientin gesundheitlichen Schaden nehmen kann, falls ihre beispielsweise internistische oder psychische Erkrankung nicht adäquat medikamentös eingestellt ist. Letzteres erhöht wiederum das Risiko von Schwangerschaftskomplikationen. Andererseits sind viele Arzneistoffe plazentagängig und einige haben das Potential, der gesunden Entwicklung des Kindes entgegenzuwirken.
Medikamente sind aber nicht immer und zu jeder Zeit während einer Schwangerschaft fruchtschädigend. Die Ursachen angeborener Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen sind äußerst vielfältig und in der Mehrzahl der Fälle liegt ein multifaktorielles Geschehen vor. Mittlerweile weiß man, dass die Empfindlichkeit des Ungeborenen gegenüber toxischen Einflüssen auch vom jeweiligen Genotyp beeinflusst wird. Eine bestimmte genetische Disposition entscheidet über eine geringere oder höhere Vulnerabilität gegenüber einer exogenen Noxe.
Eine herausragende Rolle auf die Empfindlichkeit gegenüber teratogenen Einflüssen spielt das Entwicklungsstadium zur Expositionszeit. In der Embryonalphase (15.–56. Tag nach Konzeption) findet die Organogenese statt. Zu dieser Zeit ist die Sensibilität am größten und es werden die meisten Fehlbildungen ausgelöst. Davor gilt das Alles-oder-nichts-Prinzip, d. h. negative Einflüsse in den ersten 14 Tagen nach der Konzeption schaden der Entwicklung entweder nicht oder führen zu einem Frühabort.
Ab der Fetalperiode (Tag 56 nach Konzeption), der Zeit des Wachstums und der funktionellen Ausreifung, nimmt die Empfindlichkeit gegenüber exogenen Noxen ab. Dennoch können schwerwiegende Funktionsstörungen der kindlichen Organe oder Intelligenzdefekte durch teratogene Noxen stattfinden.
Nach einer Fruchtschädigung sind verschiedene Verlaufsformen möglich: Eine normale Entwicklung nach Reparaturmechanismen, eine Fehlgeburt, intrauterine Wachstumsretardierung oder bleibende Fehlbildungen. Ein erhöhtes Karzinomrisiko im Erwachsenalter wird diskutiert.
In der Schwangerschaft wird eine generelle Zurückhaltung aller potentiellen Noxen angeraten. Alkohol- und Nikotinkonsum sollten spätestens mit Eintritt der Gravidität vermieden und Medikamente nur nach ärztlicher Absprache eingenommen werden. Indizierte Medikamente – wie etwa bei arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus, Epilepsie oder Depression – werden immer auf ihre potentielle Teratogenität überprüft und ggf. auf Schwangerschaft kompatible Präparate umgestellt. Das kann bereits bei Kinderwunsch erfolgen. Häufig angefragt werden Schmerzmittel und Antidepressiva.
Prof. Christof Schaefer von der Charitè Berlin ist Mitherausgeber des Standardwerkes Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit. Er kritisiert den Automatismus, Psychopharmaka in der Schwangerschaft einfach abzusetzen. „Bei den meisten Medikamenten wird man unter Nutzen-Risiko-Abwägung (Risiko einer Destabilisierung versus Risiko durch die Medikation) keine Umstellung vornehmen. Bei Polytherapie sollte aus psychiatrischer Sicht überprüft werden, ob sich die Zahl der Medikamente oder vielleicht die Dosis reduzieren lässt“, so Schaefer.
Im Auskunftsportal der Charitè zur Arzneimittelsicherheit in der Schwangerschaft, Embryotox, wird von einer Meta-Analyse über die Folgen von einer unbehandelten Depression in der Schwangerschaft berichtet. Es zeigte sich bei den Kindern ein erhöhtes Risiko für Frühgeburtlichkeit und erniedrigtes Geburtsgewicht.
„Zusätzlich scheint eine maternale Depression während der Schwangerschaft Auswirkungen auf physiologische Vorgänge bei Feten und Neugeboren sowie später unter Umständen auch Einfluss auf die weitere Entwicklung des Kindes zu haben. Auch können die depressiven Symptome nach der Entbindung weiterbestehen oder sich möglicherweise sogar als ausgeprägte postpartale Depression mit entsprechenden Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Interaktion manifestieren. Insgesamt ist die suffiziente Behandlung einer depressiven Erkrankung deshalb auch im Interesse des werdenden Kindes“, so Embryotox.
Wird eine Schwangere auf ein Antidepressivum neu eingestellt, empfiehlt Embryotox Sertralin und Citalopram, ebenso wie Amitriptylin und Mirtazapin. Eine bereits bestehende antidepressive Medikation sollte auf ihre Kompatibilität für die Schwangerschaft überprüft werden. Die Frage, ob die Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft mit einem erhöhten Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen bei den betroffenen Kindern vergesellschaftet ist, stand immer wieder im Raum. Nun widerlegt eine Anfang Oktober 2022 publizierte Kohortenstudie aus den USA diese Annahme.
Bei 145.702 Antidepressiva-exponierten Schwangerschaften kam es nicht zu vermehrt neurologisch-psychiatrischen Störungen wie Autismus, Aufmerksamkeitsdefizite, Hyperaktivität, Lernstörungen, Sprachverzögerungen, intellektuelle Defizite oder andere Verhaltensauffälligkeiten der Kinder. Es wurden verschiedene Substanzklassen und Expositionszeiten während der Schwangerschaft untersucht. Die Nachbeobachtung der Kinder war von Geburt an bis zum Ende der Studie (maximal 14 Jahre), die Analysen fanden zwischen August 2020 und Juli 2021 statt.
„Bei medikamentös behandlungspflichtigen Schmerzen gehört Paracetamol in jeder Phase der Schwangerschaft zu den Analgetika der Wahl. Bei hohem, behandlungsbedürftigem Fieber gehört es zu den Antipyretika der Wahl. Es kann innerhalb des üblichen Dosisbereichs eingesetzt werden. Wie jede andere Schmerzmedikation auch, darf es nicht unkritisch und ohne ärztlichen Rat tagelang oder sogar über mehrere Wochen eingenommen werden“, so Embryotox.
Auch bei Paracetamol gab es immer wieder den Verdacht, dass bei Einnahme in der Schwangerschaft neurologische Verhaltensstörungen der Kinder gehäuft auftreten würden.
Eine Studie aus Pennsylvania scheint das nun zu bestätigen: Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen hatten, wiesen in einer prospektiven Kohortenstudie gehäuft Aufmerksamkeits- und Schlafstörungen im Alter von 3 Jahren auf. Die Studie wurde mit 2.423 Mutter-Kind-Paaren durchgeführt, die Verhaltensprobleme wurden anhand der Ergebnisse einer 7-Punkte-Skala der Child Behavior Checklist gemessen. 1.011 (41,7 %) der Frauen gaben an, Paracetamol in der Schwangerschaft eingenommen zu haben. Die betroffenen Kinder fielen durch signifikant höhere Werte in drei von sieben Symptomen auf: Zurückgezogenheit, Schlaf- und Aufmerksamkeitsprobleme. Die erhöhten Werte waren mit der Ausprägung des pränatalen Stresses der Mutter vergesellschaftet. Nach Adjustierung dieses Parameters blieben zwei Skalen gering signifikant höher bei Kindern, deren Mütter Paracetamol in der Schwangerschaft eingenommen hatten: Schlaf- und Aufmerksamkeitsprobleme.
Dr. Wolfgang Paulus, Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie an der Uniklinik Ulm, relativiert daher die Aussage der Studie. Die Assoziation könne andere Gründe haben. In der Studie wäre nur einmalig in der Spätschwangerschaft nach der Einnahme gefragt worden, ohne Angaben von Häufigkeit, Dosis oder Zeitpunkt. Er vermisse Angaben zum familiären Umfeld der Kinder, das für die Entwicklung von ADHS von Bedeutung ist. Es könnte eine Rolle spielen, so Paulus, dass das Verhaltensmuster bei der Erziehung in den Familien anders sei, die bewusst auf die Einnahme von Medikamenten in der Schwangerschaft verzichten. Er sieht auch in der statistischen Auswertung der Studie nur einen marginalen Zusammenhang, da die unteren Grenzen der Konfidenzintervalle mit 1,01 nur minimal über der Grenze zur Nichtsignifikanz lagen. Darüber hinaus wurde in der Studie die Einnahme von Paracetamol durch das Kleinkind selbst nicht erfasst, was möglicherweise die Ergebnisse beeinflusst haben könnte.
Das Resümee von Paulus betrifft alle nicht unmittelbar notwendigen Dauertherapien in der Schwangerschaft: Möglichst kurze Verabreichung und moderate Dosierung. Es sei keine Lösung, auf andere Analgetika mit noch problematischerem Wirkungsprofil zurückzugreifen.
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