Mehr als 40 Prozent aller krebsbedingten Todesfälle könnten verhindert werden – und zwar vom Patienten selbst. Das behaupten die Autoren einer aktuellen US-Studie. Ist also ein großer Teil der Krebskranken am eigenen Schicksal schuld?
In den vergangenen Jahren hat die Krebsforschung verschiedene Stoffe und Risikofaktoren identifiziert, die eine Krebserkrankung begünstigen können. Ein wichtiger Risikofaktor ist dabei der Lebensstil. 42 % aller Krebserkrankungen und 45 % aller krebsbedingten Todesfälle haben ihre Ursache in einem gesundheitsschädlichen Lebensstil. Damit ist konkret gemeint: Rauchen, ungesunde Ernährung, zu starke Sonnenexposition. So lautet das Ergebnis einer retrospektiven Studie der Wissenschaftler um Farhad Islami von der American Cancer Society. „Von den meisten Risikofaktoren ist der kausale Zusammenhang belegt. Einmal durch epidemiologische Analysen, dann durch präklinische, direkte mechanistische Analysen oder durch Mutationsanalysen“, erklärt Keilholz. Nur bei einem hergestellten Zusammenhang zwischen Übergewicht oder ungesunder Ernährung (wenig Obst/Gemüse, zu viel rotes/verarbeitetes Fleisch) handele es sich um statistische Assoziationen.
Als besonders gefährlich entpuppte sich das Rauchen. „Zigarettenrauchen war mit weit mehr Krebserkrankungen und Todesfällen assoziiert als jeder andere einzelne Risikofaktor. Es war für fast 20 % aller Krebserkrankungen und 30 % aller krebsbedingten Todesfälle verantwortlich“, schreiben die Autoren. Insbesondere Lungen-, Kehlkopf- und Speiseröhrenkrebs hatten ihre Ursache sehr häufig im Rauchen. Auf den Plätzen zwei bis fünf der gefährlichsten, jedoch vermeidbaren Krebsrisiken lagen Übergewicht, Alkoholkonsum, UV-Licht und körperliche Inaktivität. Besonders riskant war jedoch die Kombination aus Übergewicht, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel und ungesunder Ernährung. Bei Frauen ließen sich 22 % und bei Männern 14 % aller Krebserkrankungen darauf zurückführen. Prozentanteil der Krebserkrankungen, die sich auf modifizierbare Risikofaktoren zurückführen ließen (nach F. Islami et al.: Proportion and number of cancer cases and deaths attributable to potentially modifiable risk factors in the United States) Nicht nur das Verhalten der Patienten wurde untersucht, die Autoren üben auch Systemkritik aus: Aus ihrer Sicht hätten effektive Präventionsmaßnahmen wie beispielsweise Verbrauchssteuern auf Zigaretten oder HPV-Impfungen viele der Krebserkrankungen und krebsbedingten Todesfälle verhindern können.
„Die Studie ist interessant, obwohl nichts wirklich neu ist“, sagt Prof. Dr. Ulrich Keilholz, Kommissarischer Direktor des Charité Comprehensive Cancer Centers in Berlin. Interessant ist sie vor allem deshalb, weil sie die größte ihrer Art ist. Die amerikanischen Wissenschaftler hatten Daten über etwa 1,5 Millionen Neuerkrankungen mit invasiven Tumoren und über knapp 600.000 krebsbedingte Todesfällen berücksichtigt. Die Zahlen hatten sie von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und dem National Cancer Institute erhalten. „Das Besondere der Arbeit ist, dass aktuelle Schätzungen, Trends und Analysen unter Hinzunahme des aktuellen Krebsregisters berücksichtigt worden sind, um diese Zahlen zusammenzustellen. Das gibt eine relativ präzise Einschätzung der Situation in den USA“, so Keilholz. „Studien in der Qualität gibt es in Deutschland nicht.“
Natürlich kann das Ergebnis der amerikanischen Studie nicht einfach auf Deutschland übertragen werden. Grund hierfür ist, dass die einzelnen Risikofaktoren in Deutschland und den USA unterschiedlich häufig vorkommen. Übergewicht beispielsweise war laut der Studie von Farhad Islamis Team der zweithäufigste Risikofaktor für Krebs. Am häufigsten hatte es Uteruskarzinome verursacht. „So stark übergewichtige Frauen wie in den USA sind in Deutschland selten. Das ist wirklich etwas Spezifisches,“ sagt Keilholz. Übergewicht und damit auch Tumorerkrankungen, die mit überflüssigen Pfunden assoziiert sind, spielen in Deutschland daher eine deutlich kleinere Rolle. Ulrich Keilholz ist Kommissarischer Direktor des Charité Comprehensive Cancer Centers in Berlin © Univ.-Prof. Dr. Ulrich Keilholz „Die UV-Strahlenbelastung ist hier wie in den USA regional unterschiedlich“, so Ulrich Keilholz weiter. Prinzipiell ist das Ergebnis aber auf Deutschland übertragbar. In den USA hatte die UV-Strahlenbelastung knapp fünf Prozent aller Krebserkrankungen und annähernd 95 % der Melanome verursacht. Senken lässt sich das Risiko, an einem Melanom zu erkranken, indem man UV-Licht meidet. „Im Erwachsenenalter ist es [das Melanom-Risiko] allerdings kaum noch beeinflussbar. Entscheidend sind die Sonnenbrände in der Kindheit“, erklärt Ulrich Keilholz. „Für Krebspatienten ist es daher von geringer Relevanz. Aber das Wissen ist wichtig, um das Verhalten der Erwachsenen zu verändern. Denn diese müssen versuchen, bei ihren Kindern Sonnenbrände zu verhindern.“ Nicht berücksichtigt hatten die amerikanischen Wissenschaftler die nicht-melanomen Krebsarten wie beispielsweise das Plattenepithelkarzinom. „Diese Tumoren sind relativ häufig, werden jedoch nicht berücksichtigt, da sie in Deutschland und in den USA nicht im Krebsregister erfasst werden“, so Ulrich Keilholz. „Das sind einfach viel zu viele.“
Der größte Unterschied in diesem Zusammenhang besteht beim Rauchen. „In Deutschland ist die Zahl der Raucher und damit auch die Zahl der dadurch verursachten Krebsfälle und Todesfälle viel höher als in den USA“, erklärt Keilholz. Grund hierfür sei, dass seit den 1980er Jahren immer weniger Amerikaner rauchen. In Deutschland sei die Zahl der Raucher jedoch weiter angestiegen. Erst in den letzten Jahren sei ein leichter Rückgang zu verzeichnen, da die jüngeren Leute weniger zum Glimmstängel greifen. Die Raucherprävalenz in Deutschland ist laut dem Experten mindestens doppelt so hoch wie in den USA. „Wenn in Deutschland niemand rauchen würde, wäre die Hälfte der Krebserkrankungen weg“, ist der Onkologe überzeugt.
Sind die Patienten also selbst schuld, wenn sie beispielsweise rauchen, Übergewicht nicht abbauen oder sich zu wenig bewegen und dann an Krebs erkranken? „Jeder lebt wie er lebt. Von dieser Lebensweise hängt das Risiko für eine Krebserkrankung ab“, ist Keilholz sicher. Die Krebsprävention ist eine ganz wichtige Kernaufgabe für die Hausärzte vor Ort. „In meiner hausärztlichen Praxis gehört eine Lebensstilberatung, eine verbale therapeutische Intervention, zum so zu nennenden täglich Brot,“ erklärt Dr. Philipp Ascher, der eine Hausarztpraxis im Süden Münchens betreibt. „Ich kläre Patienten täglich zu ihren Risiken auf und arbeite manchmal jahrelang z. B. auf einen Rauchverzicht hin – und das gar nicht so selten erfolgreich.“ Der Facharzt für Innere Medizin, Notfallmedizin und Echokardiografie ist fest davon überzeugt, dass „die Effektivität, die Erfolgsrate dieser Gespräche in offiziellen Studien konsequent unterschätzt wird, da das Pfund der langjährigen ärztlich-persönlichen Verbundenheit und die Nutzbarkeit für eine sinnvolle und notwendige Lebensstilveränderung in Studien von Universitäten sich nicht abbilden lässt.“