Morphin vermittelt einen großen Teil seiner schmerzlindernden Wirkung über Opioidrezeptoren, die sich außerhalb des Gehirns befinden. Zukünftige Medikamente sollen diese Rezeptoren gezielt aktivieren. Patienten müssten dann nicht mehr unter den Opioid-Nebenwirkungen leiden.
Morphin und verwandte Opioide sind unverzichtbare Arzneimittel in der Therapie von starken Schmerzen. Sie haben jedoch viele unerwünschte Nebenwirkungen wie Übelkeit, Müdigkeit und Atemdepression sowie bei längerer Anwendung Verstopfung und die Entwicklung einer Abhängigkeit. Ihre Wirkung entfalten die Opioide, indem sie sich an spezielle Rezeptorproteine auf der Oberfläche von Nervenzellen anlagern und diese dadurch aktivieren. Lange Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass Opioidrezeptoren nur im zentralen Nervensystem vorkommen, doch in den vergangenen Jahren häuften sich die Hinweise, dass die schmerzlindernde Opioid-Wirkung auch von Rezeptoren weitergeleitet wird, die sich auf Nervenfasern außerhalb des Gehirns befinden. „Die peripheren Opioidrezeptoren scheinen vor allem eine wichtige Rolle bei länger anhaltenden Schmerzzuständen zu spielen“, sagt Prof. Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin am Campus Benjamin Franklin der Berliner Charité. „Das können zum Beispiel Entzündungsschmerzen sein, wie sie nach Operationen oder bei der rheumatoiden Arthritis auftreten.“ Seiner Ansicht nach könnten Opioidrezeptoren, die außerhalb des Gehirns lokalisiert sind, einen wichtigen Angriffspunkt für selektive Schmerzmedikamente bilden, die so die schweren Nebenwirkungen der herkömmlichen Opioide umgehen würden.
Um das Potenzial von Wirkstoffen, die gezielt an periphere Opioidrezeptoren binden, besser einschätzen zu können, haben Stein und seine Mitarbeiter nun untersucht, in welchem Ausmaß die schmerzlindernde Wirkung von Morphin überhaupt durch diese Rezeptoren vermittelt wird. „Wir wollten wissen, wie viel des Morphins im Gehirn wirkt und wie viel im restlichen Körper“, erzählt Stein. Im Rahmen einer klinischen Studie maßen die Forscher deshalb das Schmerzempfinden von 50 Patienten nach der Implantation eines künstlichen Kniegelenks. Die Hälfte der Studienteilnehmer erhielt nach der Operation den Wirkstoff Methylnaltrexon, der alle peripheren Opioidrezeptoren spezifisch blockiert und normalerweise bei Patienten zum Einsatz kommt, die an einer durch Opioide ausgelösten Verstopfung leiden. Die andere Hälfte der Studienteilnehmer erhielt ein Placebo-Präparat. Weder die Patienten noch die Forscher wussten, wer zu welcher Gruppe gehörte. Zusätzlich zur obligatorischen Basis-Morphinmedikation hatten die Probanden dann die Möglichkeit, sich selbst mithilfe einer Pumpe weiteres Morphin zur individuellen Schmerzlinderung zu verabreichen. Wie Stein und seine Mitarbeiter in der Fachzeitschrift PAIN berichten, benötigten Patienten, die Methylnaltrexon erhalten hatten, 40 Prozent mehr Morphin, um schmerzfrei zu sein, als die Patienten aus der Placebo-Gruppe. Um ihren Schmerz zu kontrollieren, verbrauchten die mit Methylnaltrexon behandelten Patienten im Mittel 35 mg des Opioids in den ersten acht Stunden nach der Operation, die Patienten aus der Placebo-Gruppe dagegen nur durchschnittlich 25 mg im gleichen Zeitraum.
„Wenn man die peripheren Rezeptoren ausschaltet, steigert sich der Morphinverbrauch der Patienten beträchtlich“, so Stein. „Ein bedeutender Anteil der Morphin-Wirkung entfaltet sich außerhalb des Gehirns.“ Der Mediziner schätzt, dass die peripheren Rezeptoren immerhin rund ein Drittel der Schmerzlinderung vermitteln. „Periphere Opioidrezeptor-Agonisten, die nicht ins Gehirn gelangen, könnten deshalb gute klinische Effekte erzielen“, sagt Stein. „Wahrscheinlich wären sie nicht so stark wie die herkömmlichen Opioide, hätten dafür aber auch nicht die typischen Nebenwirkungen.“ Doch bislang sind alle Bemühungen von Pharmafirmen gescheitert, solche Substanzen zu entwickeln. Entweder überwanden die in Frage kommenden Wirkstoffkandidaten die Blut-Hirn-Schranke und zeigten dann die typischen zentralen Nebenwirkungen oder ihre Affinität zu den peripheren Opioidrezeptoren war zu schwach und ihr schmerzlindernder Effekt dadurch zu gering. „Wir müssen andere Konzepte der Wirkstoffentwicklung als bisher verfolgen“, findet Stein. Er und sein Team arbeiten deshalb mit dem chemischen Institut der Freien Universität Berlin zusammen: „Wir verpacken Opioide in Nanopartikel, die aufgrund ihrer Größe nicht durch die Blut-Hirn-Schranke passen“. Auch wenn die Berliner Forscher nicht die einzigen sind, die an alternativen Ansätzen arbeiten, geht Stein davon aus, dass es noch mehrere Jahre dauern wird, bis das erste selektiv wirkende Medikament auf den Markt kommt.
Andere Experten befürworten die Bemühungen, moderne Schmerzmittel ohne zentrale Nebenwirkungen zu entwickeln: „Da in der Akut- und Frühphase der Schmerzentwicklung die peripheren Opioidrezeptoren sehr wichtig sind, würde deren selektive Aktivierung den Patienten viele Nebenwirkungen ersparen“, sagt Prof. Rudolf Likar vom Zentrum für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin am Klinikum Klagenfurt. „Aber bei chronischen Schmerzpatienten wird die alleinige Aktivierung der peripheren Opioidrezeptoren wohl nicht ausreichen, um den Schmerz vollständig zu unterdrücken.“