Das Immunsystem läuft Amok und zerfleddert die Beta-Zellen der Langerhans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse. Das ist die Standarderzählung der Pathogenese des Typ-1-Diabetes. Sie könnte falsch sein.
Auf die medizinisch interessierte Welt übt das Konzept der Autoimmunerkrankungen seit Langem eine geradezu morbide Faszination aus. Es bietet aber auch einfach so einiges, was gutes Storytelling ausmacht:
Um es noch etwas epischer auszudrücken: Die Standarderzählung zu Autoimmunerkrankungen liefert nicht nur viel Substrat für persönliche Krankheitsmodelle, die das uralte Ringen von Gut und Böse auf dem Schlachtfeld des eigenen Körpers abbilden. Sie bereitet auch den alttestamentarischen Brudermord elegant für die Pathophysiologie auf und nennt ihn „Verlust der Immuntoleranz“.
Der pathophysiologische Mechanismus der Autoimmunität hat bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen zentrale Bedeutung, das ist völlig unstrittig. Die Rheumatologie ist voll von Autoimmunerkrankungen – ein Begriff, der genauso beliebt ist, wie er von vielen kritisch gesehen wird. Die Frage ist immer: Ist die Autoimmunität die Ursache der jeweiligen „Autoimmunerkrankung“, also ist das Immunsystem schuld? Oder ist sie lediglich eine Art Begleiterscheinung einer Erkrankung, deren Ursache eigentlich ganz woanders liegt – und damit dann letztlich ein Verlegenheitsbegriff?
Im Bereich Diabetes ist es der Typ-1-Diabetes, der als „Autoimmunerkrankung“ gelabelt wird und bei dem sich zunehmend dringlich die Frage stellt, ob er dieses Label zurecht trägt. Wer in die Frühzeit der Autoimmun-Hypothese beim Typ-1-Diabetes zurückschaut – in die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts –, der findet in populärwissenschaftlichen Artikeln viel von der oben skizzierten Metaphorik wieder. Die Los Angeles Times vom 31. Mai 1987 lieferte ein prägnantes Beispiel, eines von vielen:
„Sometimes these immune system components play cruel tricks on the very people they are supposed to protect, rendering a person helpless against the aggressiveness of a disease-fighting system gone awry. Such has been the scenario in rheumatoid arthritis, pernicious anemia and lupus erythematosus. New studies suggest that an immune system bent on destroying insulin-producing cells in the pancreas may be the cause of type-1-diabetes, which usually begins in childhood and is the most serious but least common kind of diabetes.“
Seit den 80er Jahren hat sich wissenschaftlich natürlich einiges getan: Genmodifikationen und damit transgene Mausmodelle wurden möglich. Insbesondere gab es seither eine ganze Menge Versuche mit NOD-Mäusen, einem Standardmodell für die Erforschung des Typ-1-Diabetes. „NOD“ steht für „non-obese diabetic“, in Abgrenzung von den adipösen Modelltieren der Typ-2-Diabetes-Forschung.
Auf Basis von NOD-Mäusen wurde in vielen, vielen Studien gezeigt, dass es beim Typ-1-Diabetes Immunreaktionen gibt, die sich gegen unterschiedliche Proteine der Beta-Zellen richten. So weit, so bewiesen. Diese Immunreaktionen werden vielfach interpretiert als eine Fehlsteuerung des Immunsystems, als pathologischer Verlust der Immuntoleranz des jeweiligen Organismus gegen irgendwelche körpereigenen Beta-Zell-Proteine. Genau das aber sind nicht mehr Daten, sondern es ist Interpretation von Daten – die Legende vom bösen Immunsystem in der Iteration Typ-1-Diabetes.
Unterstützung erhält sie von therapeutisch ausgerichteten NOD-Maus-Studien, in denen entweder Immunsuppressiva oder Immuntoleranz-induzierende Agenzien als Diabetes-Therapie oder Diabetes-Prävention eingesetzt werden. Sie führten in vielen Fällen dazu, dass ein Typ-1-Diabetes nicht oder jedenfalls später entsteht bzw. ein schon bestehender Typ-1-Diabetes sich zumindest teilweise zurückbildet. Einen guten Überblick über das NOD-Mausmodell und ihre Schlussfolgerungen liefert dieser Review aus dem Jahr 2014.
Beim Menschen mit Typ-1-Diabetes ließen sich einige Erkenntnisse dieser Mausmodelle reproduzieren, andere aber nicht. Insbesondere gab es Dutzende klinische Studien, die untersucht haben, inwieweit sich der Typ-1-Diabetes mit immunsuppressiven oder immunmodulierenden Medikamenten behandeln lässt. Prof. Mark Atkinson von der Pathologie der Universität Florida gab im Jahr 2019 in diesem Beitrag in der Zeitschrift Lancet Diabetes & Endocrinology einen Überblick über diese Studien. Im Großen und Ganzen waren es Fehlschläge. Typ-1-Diabetes-Patienten werden heute bekanntlich keineswegs immunsuppressiv behandelt.
Das alles ist der Hintergrund einer kürzlich in Cell Reports publizierten Arbeit von Grundlagenforscherinnen um Annie Pineros und Sarah Tersey von der Universität Chicago. Sie haben das NOD-Mausmodell zum Typ-1-Diabetes weiterentwickelt. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeiten stellen dringlicher denn je die Frage, ob es wirklich eine Störung des Immunsystems ist, die den Typ-1-Diabetes verursacht. Funktioniert das Immunsystem im Gegenteil vielleicht doch völlig normal? Und liegt das Problem eher im Bereich der Beta-Zellen?
Konkret haben die US-Amerikanerinnen ein NOD-Mausmodell entwickelt, bei dem sie gezielt das Alox15-Gen ausschalteten, das für das Enzym 12/15-Lipooxygenase (12/15-LOX) codiert. Dieses Enzym katalysiert die Oxygenierung bestimmter Fettsäuren, darunter Arachidonsäure und Linolsäure. Durch die Oxidierung entstehen Eicosanoide wie 12-Hydroxyeicosatetraensäure (12-HETE). Und die sind insofern toxisch, als sie zu oxidativem Stress führen. Von Alox15 ist bekannt, dass es in den Inselzellen von Menschen mit erhöhtem Typ-1-Diabetes-Risiko verstärkt exprimiert wird. Daher kam die Idee, es versuchsweise auszuschalten.
Bei ihren NOD-Mäusen haben die Forscherinnen Alox15 in einem prädiabetischen Stadium ausgeknockt. Und das Ergebnis war eindrucksvoll: Die Beta-Zellen blieben wesentlich länger und in wesentlich größerer Zahl erhalten als bei NOD-Mäusen normalerweise üblich. Dies ging bei beiden Geschlechtern einher mit einer verringerten Gewebeinfiltration durch T-Zellen. Mit anderen Worten: Die Typ-1-Diabetes-typische „Autoimmunität“ lässt sich durch den Alox15-Knockout stark verringern.
Nun hat das von Alox15 codierte Enzym 12/15-LOX mit dem Immunsystem aber rein gar nichts zu tun. Es hat vielmehr, dafür sprach schon vorher einiges, im Rahmen von Entzündungskaskaden eine regulatorische Funktion – bis hin zur Steuerung oder zumindest Mitbeeinflussung von Transkription und posttranslationalen Veränderungen diverser Signalmoleküle. Die Hypothese der US-Forscherinnen geht dahin, dass inflammatorische Prozesse, die in den Beta-Zellen oder auch außerhalb der Beta-Zellen ihre Ursache haben, unter Beteiligung von 12/15-LOX zur Bildung von Neo-Antigenen führen – auf die wiederum das Immunsystem reagiert wie die Katze aufs Wollknäuel. Anders formuliert: Das Immunsystem wendet sich nicht arglistig gegen ganz normale Gewebsstrukturen in der Bauchspeicheldrüse. Sondern es wendet sich gegen Strukturen, die dort nichts zu suchen haben und die aus Gründen, die mit dem Immunsystem selbst überhaupt nichts zu tun haben, dort exprimiert werden.
Was zu diesen Veränderungen in den Beta-Zellen führt, ist dann die nächste Frage. Spätestens an dieser Stelle beginnt es, sehr spekulativ zu werden. Die US-Forscherinnen beantworten diese Frage nicht, sondern sie spekulieren selbst. Kandidaten könnten Infektionserkrankungen sein, die Entzündungsreaktionen in den Beta-Zellen in Gang setzen, die bei genetisch entsprechend prädisponierten Individuen zu einer Produktion von Fremdantigen führen, was Immunzellen anlockt und letztlich einen Prozess der langsamen, immunologischen Gewebszerstörung in Gang hält.
Was sich die Forscherinnen aus Chicago genauer angesehen haben, ist, wie genau das Alox15 Gen bzw. sein Genprodukt die inflammatorisch-immunologischen Interaktionen beim Typ-1-Diabetes beeinflussen. Hier wird es sehr spannend und die Wege führen sehr weit weg von dem, was zum Beispiel in der Rheumatologie als typisch für autoimmunologische Erkrankungen gilt. Wir begegnen auf diesen Pfaden einem noch gar nicht so alten Bekannten aus der Onkologie, dem programmierten Todesliganden 1, kurz PD-L1 – besser bekannt unter dem Schlagwort Immun-Checkpoint.
PD-L1 ist der Trick, den Krebszellen bei einer ganzen Menge an bösartigen Tumoren nutzen, um das Immunsystem daran zu hindern, die Krebszellen als Fremdgewebe einfach abzuräumen. Als die Krebsforschung PD-L1 verstanden hatte, hat die Pharmaindustrie damit begonnen, die Immun-Checkpoint-Inhibitoren zu entwickeln, die quasi über Nacht zur vierten Säule der Krebstherapie geworden sind. Wer PD-L1 hemmt, zieht (vielen, nicht allen) Krebszellen quasi die Tarnkappe von der Zellmembran. Immunzellen, insbesondere zytotoxische T-Zellen, erkennen die Krebszellen wieder als „fremd“ und sorgen für eine (oft genug komplette) Remission.
Bei den diabetischen NOD-Mäusen in den Experimenten aus Chicago war es dagegen genau umgekehrt. Der Alox15-Knockout führte dazu, dass die Zahl an PD-L1 exprimierenden Beta-Zellen deutlich stieg – was die Beta-Zellen für das Immunsystem unsichtbarer machte und so die Zerstörung durch das Immunsystem ausbremste. Sobald die Forscherinnen ihren Alox15-Knockout-Mäusen Antikörper gaben, die gegen PD-L1 gerichtet waren, war es vorbei mit dem Schutz vor dem Typ-1-Diabetes. Innerhalb kurzer Zeit entwickelten die Mäuse jenen Typ-1-diabetischen Phänotyp, den all jene NOD-Mäuse entwickeln, bei denen Alox15 nicht ausgeschaltet wird. Gleichzeitig gibt es andere Forschungsarbeiten, die gezeigt haben, dass (noch) nicht zerstörte Beta-Zellen bei Menschen mit Typ-1-Diabetes häufig eine überdurchschnittliche PD-L1-Expression aufweisen. Die Beta-Zellen scheinen sich also ähnlich wie manche Krebszellen mit PD-L1 vor dem Immunsystem zu schützen.
Insgesamt ist die Thematik vermutlich noch viel komplexer, als sie klingt. Die Erkenntnisse aus Chicago erklären weder, wie die problematische Interaktion zwischen Inflammation und Z-Zellen beim Typ-1-Diabetes entsteht, noch warum sich das Drama spezifisch in den Beta-Zellen abspielt. Und auch neue Typ-1-Diabetes-Therapien lassen sich aus dieser Grundlagenforschung nicht einfach so ableiten – sofern man nicht so keck ist, es gleich mal mit dem Gegenteil der Krebsimmuntherapie, also Immun-Checkpoint-Aktivatoren, zu probieren. In jedem Fall sind die neuen Erkenntnisse ein Puzzle-Stück in einem Umdenkprozess, an dessen Ende der Typ-1-Diabetes das Label der Autoimmunerkrankung möglicherweise verlieren wird. Manchmal ist es ein solcher gedanklicher Paradigmenwechsel, aus dem dann plötzlich neue Behandlungen oder Präventionsstrategien hervorgehen, an die vorher nie jemand gedacht hätte.
Bildquelle: Irina Krutova, Unsplash