Das neue Alzheimer-Medikament Lecanemab sorgt nicht nur unter Neurologen für Aufregung. Wieso die Studienergebnisse trotzdem mit Vorsicht zu genießen sind, lest ihr hier.
Die jüngsten Studienergebnisse zum neuen Alzheimer-Medikament Lecanemab stimmen Alzheimer-Experten vorsichtig optimistisch – allerdings nicht ohne eine gewisse Skepsis. Ein ganz ähnliches Medikament namens Aducanumab sorgte in der Vergangenheit schon einmal für eine Achterbahnfahrt der Gefühle in der Alzheimer-Community: Erst der vorzeitige Abbruch zweier großer Studien wegen des fehlenden Benefits, dann doch ein Vorteil in einer Subgruppen-Analyse. Grundsätzliche Zweifel an der Amyloid-Kaskaden-Hypothese mischten sich mit der Hoffnung, mit Aducanumab eine neue Waffe im Kampf gegen Morbus Alzheimer in der Hand zu halten. Es folgte die höchst umstrittene FDA-Zulassung und über allem schwebte die große Frage: Bringt's denn jetzt wirklich was? Experten sind sich darin immer noch nicht einig. Lecanemab bringt jetzt neuen Schwung in die Alzheimer-Diskussion.
Bei der Pathogenese von Morbus Alzheimer tappen wir noch immer ziemlich im Dunkeln. Zwar lassen sich im Gehirn von Betroffenen Aggregate des Tau-Proteins und toxische Beta-Amyloid-Plaques nachweisen. Doch die Beseitigung dieser Ablagerungen hat bisher nicht den gewünschten Erfolg gezeigt, weswegen sich die Frage stellt, ob sie vielleicht gar nicht das richtige Therapieziel sind. In Aducanumab wurden auch deswegen so große Hoffnungen gesetzt, weil es das erste Medikament überhaupt war, das direkt in einen der pathophysiologischen Prozesse eingreift. Es ist – wie Lecanemab – ein Antikörper, der sich gegen das Protein Beta-Amyloid richtet.
Die neusten Studienergebnisse zu Lecanemab sind ein weiterer Hinweis dafür, dass an der Amyloid-Hypothese tatsächlich was dran ist. Aber zeigt sich das auch in der Klinik? Die Ergebnisse der Studie CLARITY-AD sind bisher nur als Pressemitteilung der Hersteller Biogen (USA) und Eisai (Japan) veröffentlicht – Ende November sollen die Details auf einem Kongress veröffentlicht werden. Wie die Unternehmen schreiben, wurden in der Phase-III-Studie 1.795 Alzheimer-Patienten in frühen Stadien der Erkrankung eingeschlossen und in zwei Gruppen randomisiert. Die eine erhielt zweimal wöchentlich 10 mg/kg Lecanemab, die andere erhielt Placebo. Der primäre Endpunkt war die Verbesserung des CDR-SB-Scores (Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes) – je höher der Wert auf der 18-Punkte-Skala, desto schwerer die Krankheit.
In der Lecanemab-Gruppe war der CDR-SB-Score nach 18 Monaten um 0,45 Punkte besser als in der Placebo-Gruppe. Das Ergebnis war dabei hochsignifikant. Im Vergleich zu Placebo verlangsamte Lecanemab demnach den fortschreitenden Verlust kognitiver Funktionen über den Zeitraum um 27 %. Auch der zweite sekundäre Endpunkt – die Reduktion der Amyloid-Ablagerungen im Gehirn – wurde mit Lecanemab erreicht.
„Die jetzt bekanntgewordenen Ergebnisse stimmen vorsichtig optimistisch“, meint Dr. Linda Thienpont, Leiterin des Bereichs Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative. „Zum ersten Mal konnte ein Wirkstoff, der in die Mechanismen der Alzheimer-Krankheit eingreift, die Kognition von Probandinnen und Probanden in einer Phase-3-Studie verbessern.“
Damit scheint Lecanemab tatsächlich besser abzuschneiden als das Medikament Aducanumab: In einer vergleichbaren klinischen Studie verlangsamte Aducanumab im Vergleich zu Placebo den Rückgang kognitiver Funktionen „nur“ um 22 % (Verbesserung auf der CDR-SB-Skala um 0,39 Punkte). Eine zweite Studie konnte die Ergebnisse allerdings nicht reproduzieren. Wegen der widersprüchlichen Ergebnisse und des fehlenden Wirksamkeitsnachweises war die FDA-Zulassung von Aducanumab höchst umstritten. In der EU hat man sich gleich gegen eine Zulassung entschieden (wir berichteten).
Die Unterschiede könnten möglicherweise mit der Wirkungsweise der Antikörper zusammenhängen: Aducanumab ist ein humaner monoklonaler Antikörper, der sich gegen aggregierte lösliche und unlösliche Formen des Beta-Amyloids richtet. Lecanemab ist zwar auch ein Anti-Amyloid-Antikörper – aber kein humaner, sondern ein humanisierter Maus-Antikörper, der sich gegen Amyloid-Protofibrillen richtet.
Positiv sei laut Dr. Thienpont zu vermerken, dass Nebenwirkungen, wie zum Beispiel Hirnschwellungen, weniger oft auftraten, als in vorherigen Studien mit vergleichbaren Wirkstoffen. Wie die Unternehmen mitteilen, traten bei etwa 21 % der mit Lecanemab behandelten Patienten Hirnschwellungen oder Hirnblutungen auf, die auf PET-Scans sichtbar waren. Weniger als 3 % dieser Patienten hatten symptomatische Fälle. In der Placebo-Gruppe traten bei rund 9 % der Teilnehmer Nebenwirkungen auf.
Prof. Richard Dodel, Alzheimer-Experte der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, wagt noch keine eindeutige Einschätzung: „Die Ergebnisse waren statistisch signifikant, jedoch ist zurzeit noch unklar, ob klinisch bzw. im Lebensalltag tatsächlich ein Nutzen für die Betroffenen zu spüren war. Statistisch signifikant bedeutet nicht automatisch klinisch relevant.“ Unter Alzheimer-Experten gelte üblicherweise ein Score-Unterschied von 0,5 Punkten als klinisch bedeutsam für die Betroffenen, so Prof. Dodel. Dieser wurde mit 0,45 Punkten in der Studie nicht ganz erreicht. Der Tenor unter den Experten: Lecanemab könne die Alzheimer-Krankheit im besten Fall verzögern, aber „eine Heilung wird der Wirkstoff nicht bringen“, erklärt Dr. Thienpont.
Dass Lecanemab zumindest in den USA zugelassen wird, erscheint dennoch möglich. Die FDA hat bereits im Juli diesen Jahres einen Antrag auf beschleunigte Zulassung von Lecanemab akzeptiert. Als Schnäppchen dürfte die Therapie aber nicht zu bekommen sein. Die jährlichen Kosten sollen sich auf rund 30.000 US-Dollar belaufen – so viel kostet derzeit die Behandlung mit Aducanumab.
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