Eine Mangelernährung ist nicht immer offensichtlich – und wird bei Patienten in der Klinik oft übersehen. Doch wie gravierend das Problem wirklich ist, erschließt sich erst allmählich.
Mangelernährung ist nicht immer sichtbar und wird daher häufig unterschätzt – insbesondere im klinischen Setting. Damit ist sie sogar ein stiller Krankenhaus-Killer, warnt aktuell auch eine Pressemitteilung vom Kongress Viszeralmedizin (wir berichteten). Darin ist die Rede von Mangelernährung oder einem Risiko für Mangelernährung bei jedem vierten bis fünften Patienten, der in einer deutschen Klinik aufgenommen wird.
Zur genauen Prävalenz in deutschen Kliniken ist allerdings nicht viel bekannt: In einer multizentrischen Studie aus dem Jahr 2006 waren etwa 27 % der Patienten mangelernährt, wobei es große Unterschiede zwischen den medizinischen Fachrichtungen gab. Die Prävalenz lag etwa in der Gynäkologie bei unter 10 %, aber dagegen bei über 50 % in der Geriatrie. Eine geringe Nahrungsaufnahme ist dabei der führende Faktor der Mangelernährung bei Krankenhauspatienten.
Eine aktuelle Studie aus Deutschland erfasst den sogenannten Recent and Current Low Food Intake (LIRC) abhängig von der medizinischen Fachrichtung in deutschen Kliniken. Die Studie umfasst 1.865 Patienten, die an der Umfrage des Nutrition-Day – einer jährlichen Befragung zur Ernährung in Kliniken – von 2016 bis 2020 in Deutschland teilnahmen. Ein LIRC definierten die Forscher durch eine verminderte Nahrungsaufnahme sowohl am Nutrition-Day selbst als auch in der Woche vor Hospitalisierung.
Die Forscher konnten bei mehr als einem Fünftel aller Patienten (21,1 %) einen LIRC beobachten. Die höchste Prävalenz gab es dabei mit 26,6 % in der Gastroenterologie, die niedrigste in der Neurologie mit 11,2 %.
Prävalenz von LIRC in der gesamten Stichprobe und in unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen.
Neben den medizinischen Fachrichtungen wiesen vor allem Frauen, Patienten mit Gewichtsverlust in der Vorgeschichte oder schlechtem subjektivem Gesundheitszustand einen LIRC auf. Darüber hinaus berichteten die meisten Patienten mit LIRC über eine ungünstige Entwicklung der Nahrungsaufnahme während ihres Krankenhausaufenthalts.
Dabei zeichneten sich die Ergebnisse insbesondere im Zeitraum zwischen Krankenhausaufnahme und Nutrition-Day ab: Knapp die Hälfte (50,9 %) berichtete von einer weiteren Abnahme und 22,9 % von einer konstant reduzierten Aufnahme. Nur etwa ein Zehntel der LIRC-Patienten berichtete über einen gegenteiligen Effekt, also einer vermehrten Nahrungsaufnahme während des Krankenhausaufenthaltes.
Etwa ein Viertel aller Patienten (27,7 %) hatte am Nutrition-Day selbst eine reduzierte Nahrungsaufnahme, nicht aber in der Woche vor der Krankenhausaufnahme. In Kontrast dazu hatten lediglich 8,2 % der Probanden eine reduzierte Nahrungszufuhr in der Woche vor der Aufnahme ins Krankenhaus, aber nicht am Nutrition-Day. Etwa zwei Drittel (68 %) derjenigen, die bereits vor Krankenhausaufnahme weniger Nahrung zu sich nahmen, taten das auch am Nutrition-Day (n = 578). Andersherum hatten 42,5 % (n = 924) mit geringerer Nahrungsaufnahme am Nutrition-Day auch eine verminderte Zufuhr vor ihrer Krankenhausaufnahme.
Insgesamt also war jeder fünfte Patient in deutschen Krankenhäusern von LIRC betroffen; in der Gastroenterologie sogar jeder vierte, in der Neurologie jeder neunte Patient. Diese Ergebnisse passen auch zu bisherigen Studien, in denen jeder vierte Patient in deutschen Krankenhäusern von Mangelernährung betroffen ist und etwa 60 % keine volle Mahlzeit zu sich nehmen.
„Medizinisches Personal aller Fachrichtungen […] sollte die Nahrungsaufnahme vor dem Krankenhausaufenthalt, bei der Krankenhausaufnahme und anschließend die Nahrungsaufnahme während des Krankenhausaufenthalts überwachen, um rechtzeitig mit der Ernährungstherapie und der weiteren Abklärung der Mangelernährung einzugreifen“, schließen die Autoren aus ihren Ergebnissen. Für die Zukunft müsse überprüft werden, ob eine Ernährungstherapie auch das klinische Outcome der Patienten positiv beeinflusst.
Doch wie kommt es überhaupt zu einer so hohen Prävalenz der Mangelernährung in deutschen Kliniken? „Grundsätzlich ist die Ernährung in Verbindung mit akuten Krankheiten oft schwierig“, erklärt Dorothee Volkert, Professorin für klinische Ernährung im Alter an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg, auf Anfrage von DocCheck. „Zum einen wird krankheitsbedingt vom Körper mehr Energie benötigt, aber gleichzeitig fehlt der Appetit und es wird weniger gegessen. Das geht dann häufig mit einem Gewichtsverlust einher.“ Wenn man einen Blick auf die demographische Entwicklung werfe, betreffe die Mangelernährung in Kliniken auch viele ältere Menschen: Sie sind beispielsweise durch einen Schlaganfall oder eine Demenz in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt und brauchen Hilfe beim Essen, erklärt die Wissenschaftlerin.
Ein weiteres Problem sei laut der Expertin, dass die Ernährung in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen häufig nicht sehr ernst genommen wird: „Das kann an Personalproblemen liegen und auch daran, dass das Ernährungsbewusstsein beim Personal häufig nicht sehr ausgeprägt ist.“ Der Nutrition-Day – auf dem auch die Daten der präsentierten Studie basieren – sei eben auch dafür gedacht, dieses Ernährungsbewusstsein zu verbessern. Es handelt sich dabei um eine weltweite Aktion, bei der jedes Krankenhaus mitmachen kann. „Dadurch, dass die Ernährung an diesem Tag erfasst wird, wird sie auch zum Thema.“
Zwar weist der Nutrition-Day auf ein wesentliches Problem in unserer Gesundheitsversorgung hin, doch ist die Erfassung lückenhaft: Daten werden nur an einem Tag im Jahr erhoben. Die Datenerfassung erfolgt dabei auf freiwilliger Basis und ist völlig anonym, daher weiß man auch nicht, welche Standorte die Teilnehmer repräsentieren. Auch die Anzahl an teilnehmenden Einrichtungen fällt jährlich recht gering aus. So haben zwar seit Beginn des Nutrition-Day 2006 in Deutschland insgesamt 296 Krankenhäuser und 12.506 Patienten an der Befragung teilgenommen, doch 2018 nur 25 Klinken und 767 Patienten – in den Jahren zuvor verhielt sich das ähnlich.
Laut Volkert seien die Daten daher nicht flächendeckend auf Deutschland übertragbar und es sei auch schwer, einzuschätzen, wie die Zahlen zu Mangelernährung in den Kliniken tatsächlich aussehen. Auch Prof. Diana Rubin, Leiterin des Zentrums für Ernährungsmedizin am Vivantes Klinikum, sieht das ähnlich: „Die Daten vom Nutrition-Day sind wichtig – aber nicht repräsentativ. Es handelt sich um eine freiwillige Erhebung, an der tendenziell eher Kliniken mit vorhandenen Strukturen zum Ernährungsmanagement teilnehmen, zum großen Teil mit Ernährungsteams. Das sind aber nur ca. 2 % der deutschen Kliniken. Wir brauchen ein repräsentatives Monitoring, initiiert durch die Bundesregierung.“
Volkert erklärt auch, was sich in den deutschen Kliniken ändern müsste, damit die Prävalenz der Mangelernährung sinkt: „Man muss der Ernährung mehr Beachtung schenken und Prozesse und Strukturen etablieren, damit automatisch eine gute Ernährungsversorgung stattfindet.“ Dazu zähle beispielsweise ein verpflichtendes Screening zum Ernährungszustand bei der Klinikaufnahme. Dafür gibt es bereits etablierte Fragebögen, die Nahrungsmenge, Appetit sowie Gewichtsverlust und BMI erfassen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) erwähnt dazu in ihren Leitlinien das „Subjective Global Assessment“ (SGA) oder das „Nutritional Risk Screening“ (NRS).
Wichtig ist aber nicht nur die Erfassung des Ernährungszustandes: „Jede Klinik braucht Strukturen zum Ernährungsmanagement und ein Ernährungsteam. Viele Kliniken beschäftigen aber keine Ernährungsfachkräfte mehr, da diese durch die Ökonomisierung eingespart wurden und keine direkten DRG-Erlöse generieren“, erklärt Rubin. Laut Volkert sei es schwer, einzuschätzen, was in Zukunft realistisch zu erwarten ist. „Politisches Interesse zum Handeln ist da. Was letztendlich rauskommt, wird sich zeigen“, so das Fazit der Ernährungswissenschaftlerin.
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