Ruhelos im Treppenhaus: Trotz steigender Zahl an ADHS-Diagnosen verschreiben Ärzte Pharmaka weitaus zurückhaltender. Die Verordnungszahlen schwanken von Region zu Region. Erhalten Kinder Methylphenidat beziehungsweise Atomoxetin mit Augenmaß, sinkt die Gefahr schwerwiegender Folgeerkrankungen.
Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) gilt als häufigste psychiatrische Erkrankung im Kindesalter. Ein umstrittenes Thema: Beispielsweise hatten mehr als die Hälfte aller Autoren des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) Interessenskonflikte durch Tätigkeiten in der pharmazeutischen Industrie. ADHS galt auch lange Zeit als Modediagnose. Grund genug, die Entwicklung kritisch zu verfolgen und regelmäßig Statistiken auszuwerten.
Aktuelle Zahlen kommen jetzt vom Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI). Versorgungsforscher haben Abrechnungsdaten von 2008 bis 2011 untersucht. Ihre Zielgruppe waren Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 14 Jahren. Sie fahndeten nach dem ICD-10-Code F90 „Hyperkinetische Störungen“ – nachgewiesen in mindestens zwei Quartalen. Hinzu kamen Verordnungen von Methylphenidat beziehungsweise Atomoxetin. Im Untersuchungszeitraum erhöhte sich die ADHS-Prävalenz von 3,7 auf 4,4 Prozent. Jungen sind mehr als drei Mal so häufig betroffen wie Mädchen. Zur regionalen Verteilung: In Hamburg, Bremen und Hessen diagnostizieren Ärzte seltener ADHS, während es höhere Prävalenzen in südöstlichen Bundesländern sowie in Rheinland-Pfalz gab. Diagnosehäufigkeiten in den Städten waren geringer als in weniger dicht besiedelten Kreisen. Liegt es an der Facharztdichte oder fallen hyperaktive Kinder jenseits der Ballungszentren stärker auf? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Als weitere Größe kommt der Sozialstatus mit hinzu. ADHS tritt laut Mitautorin Dr. Mandy Schulz in benachteiligten Familien doppelt so häufig auf wie in Familien mit hohem Sozialstatus. Hinsichtlich der Verordnungen lagen Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Bayern an der Spitze. Eher selten griffen Ärzte im Nordosten sowie in Bremen und Hessen zum Rezeptblock. In den neuen Bundesländern kamen tendenziell weniger Pharmaka zum Einsatz als in den alten Bundesländern. Dass Ärzte seit 2010 seltener Methylphenidat abgeben, könnte mit geänderten Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zusammenhängen, vermuten die Autoren.
Kleine Patienten profitieren von dieser Entwicklung – die Langzeitfolgen sind nicht ohne. Zuletzt berichtete Elizabeth Harstad, Boston, von möglichen Gefahren. Ihrer Untersuchung zufolge haben ADHS-Patienten im Vergleich zu gesunden Menschen ein dreifach höheres Risiko für Nikotinsucht, ein doppelt so hohes Risiko für Alkoholsucht und ebenfalls ein doppelt so hohes Risiko für Kokainmissbrauch. Ebenso beobachtete die Forscherin einen erhöhten Internet-, Videospiele- und Fernsehkonsum. „Regelmäßige Untersuchungen beim Kinder- und Jugendarzt und eine bei Bedarf sorgfältig eingestellte medikamentöse Behandlung gehören zu wichtigen Beiträgen, um der Entwicklung von Sucht vorzubeugen“, sagt Dr. Klaus Skrodzki vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Viele ADHS-Kinder leiden zudem unter einem geringen Selbstwertgefühl und unter Depressionen und/oder Angsterkrankungen. Eltern sollten deshalb mit dem Kinder- und Jugendarzt besprechen, ob eine zusätzliche Verhaltenstherapie sinnvoll ist.“ Diese Strategie könne Heranwachsenden helfen, besser mit ihrer Krankheit umzugehen und ihre Suchtgefährdung zu verringern.
Mit Suchterkrankungen ist es nicht getan. Søren Dalsgaard von der Aarhus Universität wertete Daten eines dänischen Personenregisters mit 714.258 Kindern aus. Ärzte diagnostizierten bei 8.300 kleinen Patienten ADHS nach dem fünften Lebensjahr. In der gesamten Kohorte erlitten 5.734 kleine Patienten kardiovaskuläre Ereignisse. Davon nahmen 111 Medikamente gegen ADHS ein. Wie Dalsgaard schreibt, kam es unter der Pharmakotherapie selten, aber statistisch signifikant häufiger, zu zerebrovaskulären beziehungsweise kardiovaskulären Erkrankungen oder zu Arrhythmien. Vorerkrankungen oder sonstige Arzneistoffe hatten Wissenschaftler ausgeschlossen.
Apropos Einflussfaktoren: Pharmaka spielen bei ADHS noch eine ganz andere Rolle. Droht eine Frühgeburt, verabreichen Ärzte häufig Glukokortikoide. Alina Rodriguez, London, fand Hinweise, dass Kinder durch pränatale Steroidgaben häufiger an ADHS erkranken. Aus Daten der Northern Finland Birth Cohort (NFBC) ermittelte sie ein achtfach höheres Risiko im Vergleich zu Kindern ohne Steroidexposition – jedoch nur bei Achtjährigen. Im Teenager-Alter waren entsprechende Unterschiede nicht mehr signifikant. Trotzdem warnt Rodriguez, Tierexperimente hätten gezeigt, dass das heranwachsende Gehirn besonders empfindlich auf Glukokortikoide reagiere. Mittlerweile fanden US-amerikanische Neurologen Anomalien innerhalb kindlicher Gehirnstrukturen als Folge der Medikation. Forscher müssen noch einige Hausaufgaben erledigen, raten Ärzten aber dennoch zur Vorsicht. Die Hintergründe von ADHS haben sie bis heute nur ansatzweise verstanden.