Stockholm ist so was von retro. Statt an die Covid-Impfstoffe geht der Medizin-Nobelpreis an die Neandertaler-Forschung. Zurecht: Svante Pääbo ist eine tolle Wahl – und ein bisschen klinische Relevanz gibts auch.
Wer heutzutage sein Erbgut an genetische Analyse-Dienstleister wie 23andMe schickt, der kann nicht nur Risikogene für bestimmte Erkrankungen identifizieren lassen. Er kann auch die individuelle genetische Genealogie rekonstruieren. Alle Menschen sind genetische Mischmodelle und die individuelle Mischung fällt bei jeder und jedem ein bisschen anders aus. So weit, so schon länger bekannt. Seit einigen Jahren nun lässt sich bei den Anbietern genetischer Stammbäume eine ganz besondere Frage beantworten: Wie viel Neandertaler steckt in mir?
Dass diese Frage gestellt und beantwortet werden kann, verdanken wir Svante Pääbo, der in diesem Jahr den Nobelpreis für Medizin oder Physiologie erhalten hat. Der Schwede Pääbo ist seit 1997 Direktor am damals neu gegründeten Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Er gilt als der Begründer der Paläogenetik, einer Unterdisziplin von je nach Lesart Genetik oder Paläontologie. Sie bemüht sich darum, aus fossilen Überresten mit Hilfe von DNA-Analysen Rückschlüsse auf die Entwicklung des Lebens auf der Erde abzuleiten.
Pääbos Name ist mit zwei großen wissenschaftlichen Leistungen verknüpft. Zum einen hat er die Methodik entwickelt, die es überhaupt erst möglich macht, aus uralten Knochenresten das jeweilige Erbgut zu analysieren. Im Kern sind das Gensequenzierungsprojekte. Allerdings sind bei den Fossilien aufwändige Reinigungsschritte und genetische Rekonstruktionen nötig, um überhaupt sinnvolle Aussagen treffen zu können. Denn archaische DNA gibt es nicht in Reinform, sondern nur maximal verunreinigt. Sie liegt in arbiträren Bruchstücken vor und jeder Mikroorganismus, der in zehntausenden von Jahren mit dem Fossil in Berührung kommt, hinterlässt seine genetischen Spuren.
Vor Pääbos Arbeiten galten Genanalysen, die Original und Kontamination auseinanderdividieren und aus winzigen Fragmenten ein komplettes Erbgut rekonstruieren, als kaum vorstellbar. Pääbo bewies das Gegenteil und er bewies es relativ spektakulär. Es begann mit einer Cell-Publikation im Jahr 1997, in der die Forscher beschrieben, wie sie mitochondriale DNA (mtDNA) aus Neandertaler-Fossilien sequenziert hatten und welche Rückschlüsse daraus hinsichtlich der Evolution der Hominoiden gezogen werden können. Der Cell-Abstract endete mit dem Satz:
„This suggests that Neanderthals went extinct without contributing mtDNA to modern humans.“
Diese Einschätzung war in der Formulierung mit der mtDNA formal richtig, sie wurde aber (auch von Pääbo selbst) breiter interpretiert dahingehend, dass es gar keine genetische Vermischung zwischen modernen Menschen und Neandertalern gegeben habe.
Genau das stellte sich als falsch heraus und es war Pääbo selbst, der seine initiale Einschätzung 13 Jahre später korrigierte. Dies geschah im Rahmen der im Windschatten des Humangenomprojekts durchgeführten, ersten Komplettsequenzierung eines Neandertaler-Genoms. Darüber berichteten Pääbo und Kollegen im Jahr 2010 in der Zeitschrift Science.
Seither ist klar, dass die Vorfahren des modernen Menschen mit Neandertalern Sex hatten. Auch hier lohnt der kurze Blick in die Originalpublikation: Science übertitelte seine Laien-Zusammenfassung der Arbeit anschaulich mit „Kissing Cousins“ – nur so halb korrekt, denn Küssen alleine treibt die Evolution nicht voran. Es wird heute geschätzt, dass zwischen 1 und 4 % der DNA moderner eurasischer Menschen von Neandertalern kommen. Das ist nur dann denkbar, wenn Sex zwischen den „Cousins“ vielleicht nicht Alltag, aber jedenfalls auch keine völlig exotische Ausnahme war.
Jenseits des Yellow-Press-Themas Neandertaler-Sex untermauerte Pääbo mit seinen Arbeiten zur Paläogenetik des Neandertaler-Genoms die von Allan Wilson und Kollegen schon 1987 auf Basis von mtDNA in Nature formulierte Out-of-Africa-Hypothese. Sie besagt, dass alle modernen Menschen außerhalb Afrikas von einer einzigen Homo-sapiens-Ahnengeneration abstammen, die vor 60–70.000 Jahren den afrikanischen Kontinent verließ und in einer quasi pandemieartigen Welle innerhalb weniger 10.000 Jahre den Globus überrollte.
Unsere Vorfahren trafen bei dieser Ausbreitung zum einen und insbesondere im westlichen Eurasien auf die Neandertaler, die auf eine frühere Migrationswelle aus Afrika, die Homo-erectus-Welle, zurückgingen (sie hatten zu diesem Zeitpunkt schon rund 300.000 Jahre in Eurasien gewohnt, ohne dabei den Planeten zu ruinieren.) Die Homo-sapiens-Stämme trafen außerdem, eher im östlichen Eurasien, noch auf einen anderen Urmenschenschlag. Das ist die zweite große wissenschaftliche Leistung von Pääbo: Er entdeckte mithilfe seiner DNA-Methodiken den bis dahin unbekannten Denisova-Menschen, benannt nach der Höhle, in der das entsprechend Fossil gefunden wurde, auf das Pääbo zufällig aufmerksam gemacht wurde. Die Nature-Publikation zum Denisova-Mensch erschien ebenfalls noch im Jahr 2010.
Der Denisova-Mensch ist eine Art Schwesterstamm der Neandertaler. Die gemeinsamen Vorfahren beider Menschenarten nahmen vor rund 800.000 Jahren eine Abzweigung aus der menschlichen Evolution, möglicherweise schon außerhalb Afrikas. Neandertaler und Denisova-Menschen trennten sich dann vor rund 640.000 Jahren. Alles andere ist ähnlich: Auch die Denisova-Menschen leisteten ihren Beitrag zum Genom des modernen Menschen. Der Schwerpunkt liegt im asiatischen Raum.
Hat das Ganze jetzt irgendeine medizinische Relevanz? Der Kernvorwurf jener, die schon im vergangenen Jahr und wieder in diesem Jahr gerne die COVID-19-Impfstoffe auf dem Nobelpreis-Thron gesehen hätten, geht in genau diese Richtung: Warum einen Medizin-Nobelpreis für „Wissenschaft um der Wissenschaft Willen“ und nicht stattdessen für die Entwicklung einer Technologie, die weltweit Millionen von Menschenleben gerettet hat?
Das hat wohl mehrere Dimensionen. Zum einen lässt das Nobelpreis-Komitee (aus guten Gründen) gern ein bisschen Zeit verstreichen, bevor neue Entwicklungen mit einem Preis ausgezeichnet werden. Die Covid-Impfstoffe sind also keineswegs aus dem Rennen. Hinzu kommt, dass es nicht um den Medizin-Nobelpreis, sondern um den „Nobelpreis für Medizin oder Physiologie“ geht. Nun kann man streiten, ob Paläogenetik Physiologie ist, allerdings fällt es in Ermangelung eines Biologie-Nobelpreises schwer, diese Art Forschung anders einzuordnen. So gesehen passt das schon.
Und schließlich: Ja doch, die Neandertaler-DNA hat Relevanz für die Physiologie des modernen Menschen. Das ist im Einzelnen sogar ziemlich spannend und noch längst nicht auserforscht. Die modernen Menschen trafen damals, vor 60–70.000 Jahren auf Menschen, die schon 300.000 Jahre Zeit gehabt hatten, sich an Eurasien und das dortige Klima zu adaptieren. Dass da das eine oder andere günstige Gen dabei war, das den Neuankömmlingen Vorteile bringen konnte, liegt auf der Hand. Vom Denisova-Menschen beispielsweise kommt das Hypoxie-Gen EPAS1, das es Menschen deutlich erleichtert, dauerhaft oberhalb von 3.000 Metern Höhe zu leben. EPAS1 ist der genetische Trick der Tibeter. Ohne Neandertaler-Sex kein Lhasa, sozusagen (der Vollständigkeit halber: Das Gen kommt auch bei einigen Han-Chinesen vor).
Ein zweites interessantes Beispiel für eine genetische Aneignung sind die Toll-like-Rezeptoren (TLR) 1, 6 und 10. Diese sind bei einem relativ hohen Anteil der modernen Menschen vorhanden und es gibt sie in unterschiedlichen archaischen Haplotypen, was dafür spricht, dass sie mehrfach aus dem Neandertaler- und/oder Denisova-Mensch-Genom „übernommen“ wurden. Was genau der offensichtlich sehr relevante Vorteil dieser speziellen, archaischen TLRs ist, ist noch unklar. Sie sind an der Erkennung pathogener Mikroorganismen beteiligt und spielen bei Immunreaktionen eine Rolle, die außer für die antimikrobielle Abwehr auch für allergische Reaktionen wichtig sind.
Ebenfalls einer besseren Infektionsabwehr dienen archaische Haplotypen der Proteine STAT2 und Oligoadenylat-Synthetase (OAS), die vor allem im Bereich der antiviralen Signalketten gebraucht werden. Und, um dann doch nochmal auf COVID-19 zurückzukommen: Pääbo selbst konnte mit Kollegen kürzlich zeigen, dass bestimmte, auf Neandertaler und Denisova-Menschen zurückgehende Genvarianten auf den Chromosomen 3 und 12, darunter OAS, das Risiko der Entwicklung eines Atemnotsyndroms bei SARS-CoV-2-Infektion beeinflussen können.
Ganz zum Schluss: Dass die Bestimmung des Neandertaler-Anteils an der eigenen DNA bei genetischen Dienstleistern so kostengünstig ist, ist indirekt auch ein Verdienst von Svante Pääbo. In seiner Arbeitsgruppe gab es damals Streit, ob das dafür nötige Verfahren patentiert werden sollten oder nicht. Pääbo entschied sich dagegen, um die gute Stimmung in der eigenen Arbeitsgruppe, in der einige sehr emotional gegen die Patentierung argumentierten, nicht zu gefährden. Manches ist eben wichtiger als Geld.
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