Körperliche Aktivität ist wichtig für die Gesundheit – bei Diabetes-Patienten sogar noch mehr. Welche Vorteile Bewegung bringt und welche Fallstricke es bei der Therapieempfehlung gibt, erfahrt ihr hier.
Sport und Bewegung sind in vieler Hinsicht gesund, darüber sind sich Experten einig. Doch wie sieht es mit körperlicher Aktivität bei Diabetes mellitus aus? Wie wirkt sie sich auf den Blutzuckerspiegel aus? Profitiert jeder Patient davon oder kann sie auch schädlich sein? Was gilt es, zu beachten?
„Die Antwort auf die Frage, ob alle Diabetespatienten Sport treiben sollten, ist ein klares Ja“, sagt Dr. Stephan Kress. Er ist Leitender Oberarzt an der Medizinischen Klinik I des Vinzentius-Krankenhauses Landau und 1. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Diabetes, Sport & Bewegung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG). „Jeder Diabetes-Patient profitiert von Sport und Bewegung. Sie sind sogar eine ganz wichtige Säule der Therapie.“ So kann regelmäßige Bewegung dazu beitragen, den Blutzuckerspiegel und den Blutdruck zu senken, die Blutfettwerte zu verbessern und ein gesundes Körpergewicht zu erreichen oder zu halten – alles Faktoren, die Teil einer guten Diabetes-Einstellung sind. Im frühen Stadium eines Typ-2-Diabetes kann körperliche Aktivität diese Werte so stark verbessern, dass keine Medikamente benötigt werden oder sie – in Absprache mit dem Arzt – wieder abgesetzt werden können.
Zudem reagieren die Muskelzellen durch die Beanspruchung empfindlicher auf Insulin, so dass der Körper weniger Insulin benötigt. Regelmäßiger Sport kann auch dazu beitragen, Folgeerkrankungen von Diabetes wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder einem diabetischen Fußsyndrom vorzubeugen oder diese zu verbessern. Darüber hinaus tragen Sport und Bewegung dazu bei, einer Depression vorzubeugen, die bei Diabetes-Patienten doppelt so häufig auftritt wie bei Gesunden.
Doch was ist beim Thema Bewegung zu beachten? „Ein wichtiger Aspekt ist, ob die Patienten Folgeerkrankungen haben oder nicht“, erläutert Kress. „Zum anderen spielt es eine Rolle, welche Diabetes-Therapie sie haben, insbesondere, ob sie Insulin benötigen oder nicht. Umgekehrt kann man sagen: Wenn Menschen mit Diabetes keine Folgeerkrankungen und keine Insulintherapie haben, können sie ohne Einschränkungen Sport machen.“
Diabetes-Patienten mit Folgeerkrankungen, etwa einer Herzinsuffizienz, einem diabetisches Fußsyndrom oder weiteren Erkrankungen wie einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), sollten sich von einem Diabetologen oder Sportmediziner beraten lassen. „Möglicherweise sollten sie nur begrenzt oder mit einer gewissen Vorsicht Sport machen, um sich nicht zu überlasten“, sagt Kress. „Aber dennoch ist es auch für sie wichtig, eine passende Form der Bewegung finden.“
Patienten mit einer Insulintherapie sollten sich ebenfalls von einem Arzt beraten lassen oder eine Schulung besuchen, bevor sie mit Sport beginnen oder ihre körperliche Aktivität deutlich steigern. Das kann zugleich dazu beitragen, ihnen die Angst vor Blutzuckerentgleisungen beim Sport zu nehmen. Denn Patienten mit Typ-1-Diabetes oder einer intensivierten Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes sollten ihre Blutzuckerwerte vor und während der Bewegung im Blick haben. Idealerweise wird dies durch eine kontinuierliche Gewebezuckermessung (CGM) gewährleistet. Starke Schwankungen des Blutzuckers nach unten und oben sollten vermieden werden, um nicht in eine gefährliche Unterzuckerung oder – bei einer Überzuckerung – in ein lebensgefährliches diabetisches Koma zu geraten. Daher ist es für die Betroffenen wichtig, zu wissen, wie sich körperliche Aktivität auf ihren Blutzuckerspiegel auswirkt. Die DDG-Arbeitsgemeinschaft Diabetes, Sport & Bewegung bietet beispielsweise Arzt-Patienten-Seminare für diese Patientengruppe an, die wichtige Erkenntnisse zum Selbstmanagement von Diabetes bei Bewegung und zugleich praktische Erfahrungen vermitteln.
Im Wesentlichen hat Bewegung zwei Effekte auf den Glukosehaushalt, erläutert Kress. „Zum einen wird Energie verbraucht. Dabei werden die Glykogen-, also Kohlenhydratspeicher in der Leber und in den Muskeln, geleert. Im Anschluss werden die Speicher wieder gefüllt und Glukose in die Muskeln ‚hineingezogen‘. Man spricht auch von einem ‚Muskelauffülleffekt‘“, so der Diabetologe. „Dieser kann bis zu 14 Stunden nach der Aktivität anhalten.“ Zum anderen erhöht die Muskelaktivität die Wirkung von Insulin, so dass der Insulinbedarf sinkt.
Die Patienten müssen also darauf achten, dass ihr Blutzuckerspiegel während und nach dem Sport nicht zu stark absinkt. „Dazu gibt es zwei Möglichkeiten: Insulin einzusparen oder zusätzliche Kohlenhydrate zu sich zu nehmen“, erklärt Kress. „Die Menge hängt dabei von der Art und Intensität der Bewegung sowie vom Trainingszustand ab. Als Faustregel gilt: Pro halber Stunde Bewegung sollte eine halbe oder eine Broteinheit (BE) zusätzlich verzehrt werden.“
Vor der körperlichen Aktivität sollte der Blutzuckerspiegel bei 120 bis 140 Milligramm pro Deziliter (mg/dl) oder eventuell höher liegen. „Während der Bewegung sollten die Patienten ihre Blutzuckerwerte alle halbe Stunde oder Stunde prüfen und bei einem Abfall um 30 Punkte eine BE zu sich nehmen“, sagt der Experte. „Wichtig ist auch, in den Stunden nach dem Sport und vor dem Schlafen ausreichend Kohlenhydrate zu verzehren, um nachts nicht in den Unterzucker zu geraten. Das gilt insbesondere, wenn Alkohol getrunken wird, der zu einem starken Absinken des Blutzuckerspiegels führt.“ Bei akuter Gefahr von Unterzucker können die Patienten auf Traubenzucker oder Fruchtsaft zurückgreifen, die die Glukose-Speicher schnell wieder auffüllen.
„Sehr hilfreich für das Diabetes-Management bei Bewegung sind CGM-Geräte, die die Blutzuckerwerte kontinuierlich messen und bei niedrigen Werten einen Alarm abgeben“, sagt Kress. „Allerdings werden sie bisher nur für Typ-1-Diabetiker und Diabetiker mit intensivierter Insulintherapie von den Krankenkassen erstattet. Aus meiner Sicht könnten jedoch alle Diabetes-Patienten von ihnen profitieren.“
Alternativ müssen die Betroffenen ihre Blutzuckerwerte regelmäßig messen. Um ihren Stoffwechsel gut einschätzen zu können, können sie Gesundheits-Apps oder ein Tagebuch nutzen, in das sportliche Aktivitäten, Blutzuckerwerte, Insulin-Dosen und verzehrte Kohlenhydrate eingetragen werden. Zu beachten ist auch: Sehr intensive Bewegung kann ein Stressfaktor sein, durch den der Blutzuckerspiegel wieder ansteigt. Daher sei es wichtig, die eigene Stressreaktion und die eigenen Belastungsgrenzen gut zu kennen, betont Kress.
„Durch eine Schulung und eigene Erfahrungen können die meisten Diabetes-Patienten mit der Zeit gut einschätzen, wie ihr Körper reagiert und wie sie sich vor, während und nach dem Sport verhalten sollten“, sagt der Diabetologe. „Sie können jede Art von Sport ausüben – auch Leistungssport ist kein Problem.“ Nur bei sehr intensivem Training oder im Profi-Sport sei häufig mehr Beratung oder eine spezielle ärztliche Betreuung notwendig.
Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes ist mangelnde Bewegung – neben Übergewicht und einer zucker- und fettreichen Ernährung – ein wesentlicher Faktor für die Entstehung und das Fortschreiten der Erkrankung. „Für diese Patienten ist Bewegung also ganz wichtig“, sagt Kress. „Vielen fällt es jedoch schwer, aktiver zu werden. Studien haben gezeigt, dass Diabetes-Patienten von allen Bevölkerungsgruppen am meisten sitzen oder liegen.“
Hilfreich ist es daher, mit kleinen Schritten zu beginnen. „Ein Anfang kann sein, das Sitzen und Liegen häufiger zu unterbrechen und mehr Bewegung in den Alltag einzubauen – zum Beispiel öfter mal eine Strecke zu Fuß zu gehen oder die Treppe statt den Aufzug zu nehmen. Auch das kann bereits förderlich für die Gesundheit sein“, erläutert der Diabetologe. „Die Betroffenen sollten dabei auf Bewegungsformen zurückgreifen, die sie schon kennen und die ihnen Spaß machen.“ Rückmeldungen, etwa die Zahl der Schritte bei einem Schrittzähler, können dabei sehr förderlich für die Motivation sein.
Ärzte können mit ihren Patienten einen individuell angepassten Therapieplan erstellen, in dem Zeit und Intensität der Bewegung festgelegt werden – und mit ihnen eine Vereinbarung zur Umsetzung treffen, etwa für die nächsten drei Monate. Falls dem Patienten Intensität oder Dauer der Bewegung zu viel sind, kann der Plan entsprechend angepasst werden. Die DDG-Arbeitsgemeinschaft Diabetes, Sport & Bewegung hat einen „Therapieplan Bewegung“ entwickelt, den Ärzte zu diesem Zweck nutzen können. Weitere Materialien, die zu mehr Bewegung im Alltag motivieren sollen, stellt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) auf ihrer Webseite bereit, etwa eine „Bewegungspackung“, die Spielkarten mit Bewegungsübungen enthält.
Soweit möglich, sollte die Bewegung allmählich weiter gesteigert werden. Laut der DDG-Praxisempfehlung „Diabetes, Bewegung und Sport“ sollten erwachsene Diabetes-Patienten sich mindestens 150 Minuten pro Woche mit moderater Intensität bewegen, bei jüngeren und körperlich fitten Patienten kann es auch mehr sein.
Insgesamt sollten Ärzte das Thema Bewegungsförderung noch mehr in ihre Behandlung einbeziehen, betont Kress. „So haben Studien ergeben, dass sich Bewegung und Sport auf 26 internistische Erkrankungen günstig auswirken. Außerdem verbessern sie die psychische Gesundheit, bauen Stress ab, machen glücklicher und verleihen mehr Energie“, sagt der Experte. „Gleichzeitig bietet sich so eine enorme Chance, Ressourcen im Gesundheitssystem zu sparen.“
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