8,5 Millionen: So viele Diabetespatienten gibt es in Deutschland, Tendenz steigend. Mit Andreas Fritsche, Vizepräsident der DDG, haben wir darüber gesprochen, wie sich dieser Trend aufhalten lässt und was Ärzte noch lernen müssen.
Diabetes mellitus wird in den letzten Jahren gerne als Epidemie bezeichnet – wenn man sich die Fallzahlen anschaut, ist das auch nicht verwunderlich. In Deutschland wird die Prävalenz auf etwa 8,5 Millionen geschätzt, wovon ca. 350.000 auf Typ 1 entfallen und der größte Teil der restlichen Fälle auf Typ 2. Jeder fünfte Todesfall in Deutschland ist mit Diabetes assoziiert.
Nicht alle Bevölkerungsgruppen sind dabei gleich betroffen. So fallen beispielsweise Unterschiede je nach Ort auf: In den ostdeutschen Bundesländern gibt es mehr Fälle als in den westdeutschen. Woher diese Unterschiede kommen – unklar. Prof. Andreas Fritsche, Vizepräsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), erklärt im Interview mit DocCheck: „Das kann man nur dann herausfinden, wenn man auch eine gute statistische Grundlage hat. Aber die haben wir nicht, da es leider bis heute kein Diabetesregister gibt.“ Es gebe zwar die Diabetes-Surveillance des RKI, welches dem Gesundheitsministerium unterstellt sei und somit nicht völlig unabhängig agiere. Allerdings seien deren Daten nur begrenzt belastbar: „Die Zahlen, die wir haben, also zum Beispiel diese Ost-West-Verteilung oder zu Folgeerkrankungen des Diabetes, kommen aus unterschiedlichen Datenquellen und das ist einfach nicht so aussagekräftig wie ein richtiges Register.“
Einige Dinge sind allerdings trotz verbesserungswürdiger Datenlage klar. „Je älter die Menschen sind, desto häufiger tritt Diabetes auf. Das Alter ist der wichtigste Risikofaktor“, betont Fritsche. „Man weiß, dass zum Beispiel in Altersheimen oftmals mehr als die Hälfte aller Bewohner Diabetes haben.“ In einer immer älteren Bevölkerung führt das zwingend zu mehr Diabetesfällen.
Neben dem Alter gibt es natürlich den zweiten großen Risikofaktor Lebensstil, auf den man auch Einfluss nehmen kann – im Guten wie im Schlechten. Fritsche zufolge sind auch die steigenden Fallzahlen der letzten zwei Jahre auf Änderungen des Lebensstils zurückzuführen. Durch Lockdowns und andere Maßnahmen sollte zwar einerseits die Bevölkerung vor einem neuartigen Virus geschützt werden, auf der anderen Seite wurde dadurch aber auch ein vortrefflicher Nährboden für neue Diabeteserkrankungen geschaffen. „Die Menschen wurden 2020 mit Videos der Bundesregierung dazu animiert, zuhause zu bleiben, ‚Besondere Helden‘ hieß die Kampagne. Da wurde eben gezeigt, wie Menschen auf der Couch liegen, sich nicht bewegen und Chips essen und damit das Virus bekämpfen – so die Botschaft. Und die Patienten sind zuhause geblieben, haben 10 Kilo zugenommen und dann auch häufiger Diabetes bekommen.“ Dazu käme die psychische Belastung, die auch einen eigenständigen Risikofaktor ausmacht. Fritsche stellt fest: „Mehr Depressionen führen auch zu mehr Diabetes.“
Ungesunde Ernährung, zu wenig Bewegung und zu viel Stress – das betrifft eine riesige Anzahl Menschen in Deutschland. Muss also eine aktive, großflächige Diabetes-Prävention her? Nicht unbedingt. Fritsche: „Natürlich kann jeder einzelne für sich Diabetesprävention betreiben, aber wir als Gesundheitssystem müssen uns um die Hochrisikopatienten kümmern.“ Risikopatienten sind diejenigen, die bereits einen Prädiabetes haben und zum Teil auch die schweren Folgeerkrankungen des Diabetes wie Retinopathie, Schlaganfall, Nephropathie und pAVK angelegt haben – was, wie Fritsche schätzt, ca. ein Fünftel der Risikopatienten betrifft. „Um die müssen wir uns besonders intensiv kümmern.“
Leider ist es für Ärzte gar nicht so leicht, diese Hochrisikopatienten rechtzeitig – bevor sich der Diabetes manifestiert – abzufangen. Das liegt zum einen am Patientenverhalten: Man geht eben erst dann zum Arzt, wenn es schon ein Problem gibt und nicht aufgrund eines eher abstrakten, nicht spürbaren Risikos. Auf der anderen Seite ist es für Ärzte auch mit einem recht großen Aufwand verbunden, das Diabetesrisiko eines Patienten genau einzuschätzen.
Zunächst muss der Prädiabetes anhand des Blutzuckers festgestellt werden. Drei Möglichkeiten zur Messung gibt es: über den Nüchternblutzucker (Prädiabetes liegt vor bei Werten zwischen 100–120 mg/dl), den postprandialen Blutzucker (140–200 mg/dl) oder über den HbA1c (5,7–6,4 %). Letzteres ist die einfachste Methode, da die Messung des HbA1c zu jeder Uhrzeit erfolgen werden kann; der Patient muss für den Test nicht nüchtern sein oder eine Zuckerlösung zu sich nehmen. „Er ist zwar am ungenauesten, aber in der Praxis am einfachsten durchzuführen“, stellt Fritsche fest.
Liegt ein Prädiabetes vor, folgen weitere Tests, um das Risiko genauer einzuschätzen. „Es ist so, dass das Risiko hauptsächlich durch die Insulinsensitivität und die Insulinsekretion bestimmt wird und die zu messen ist gar nicht so einfach. Die meisten Menschen denken immer, das Hauptrisiko wird über das Körpergewicht getragen, aber das ist nicht so: Es kommt hauptsächlich auf die Körperfettverteilung an, ob die günstig oder ungünstig ist.“ Viszerales Fett sowie Fett in Organen eingelagert, sei ungünstig, während das Fett im Subkutangewebe günstig ist und sogar eine schützende Wirkung habe. Fritsche rät dementsprechend: per Sonografie die Fettspeicherung in der Leber kontrollieren und abschätzen, ob das Körperfett sich eher als klassischer Bierbauch oder im Bereich von Gesäß und Oberschenkeln anlagert.
Per Messung des nüchternen C-Peptids und Glukosewertes ließe sich feststellen, ob der Patient eine gute oder schlechte Insulinsekretion habe. Er ergänzt: „Was noch ganz wichtig ist: Die Nierenfunktion muss untersucht werden, weil bei Prädiabetes manchmal schon eine eingeschränkte Nierenfunktion und eine Albuminurie vorliegen.“ Das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung (DZD) habe auch einen Rechner entwickelt, der auf Basis der verschiedenen Messungen Risikotypen identifizieren kann. Voraussetzung dafür ist die Messung des Blutzuckers und des Insulins – sowohl nüchtern, als auch 120 Minuten nach Durchführung eines oralen Glukosetoleranztests. Damit ist das Tool vor allem für Spezialisten geeignet, nicht für den Hausarzt.
Ist der Risikopatient identifiziert, heißt es für den Arzt: einschreiten, am Ball bleiben und maximal unterstützen – persönliche Hinwendung ist dabei der Schlüssel zum Erfolg. Durch eine Lebensstilintervention lässt sich die Manifestierung des Diabetes selbst bei Hochrisikopatienten effektiv verhindern. Das konnte das DZD im Rahmen ihrer Prädiabetes-Lebensstil-Interventions-Studie demonstrieren. „Da gibt es auch einen Dosiseffekt: Je intensiver ich mich an die Änderung des Lebensstils mache und je mehr Unterstützung ich habe, desto besser kann ich den Diabetes verhindern, über mehrere Jahre.“
Ist der Patient übergewichtig, zählt vor allem die nachhaltige Gewichtsabnahme, betont Fritsche: „Da gibt es den Trend zur aggressiven starken Gewichtsabnahme mit irgendwelchen Nulldiäten und ähnlichen radikalen Dingen. Es ist aber so, dass der Langzeiterfolg eher beim qualifizierten, langfristigen Abnehmen besser ist.“ Eine Lebensstilintervention sei eben eine dauerhafte Maßnahme, die nicht nur für einen Monat durchgehalten werden muss. Und am besten funktioniere das durch die persönliche Beratung – durch den Arzt selbst oder qualifizierte Ernährungsberater –, anstelle von Internetkursen, Zeitschriftenartikeln oder Fernsehsendungen. Die neuen Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGas) könnten Fritsches Ansicht nach vielleicht unterstützend helfen, aber noch sind sie zu jung und wenig erforscht, um definitive Aussagen zur Wirksamkeit zu treffen.
Ganz wichtig in der Beratung von übergewichtigen Patienten: Die Schuldfrage immer weglassen. Mit einer Haltung à la „Selber schuld, dass Sie zu dick sind, machen Sie mal was dagegen“ ist niemandem geholfen. Fritsche: „Jeder übergewichtige Mensch will abnehmen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Übergewichtigen getroffen, der sagte ‚Ich find das toll, ich will noch zunehmen‘ – sondern jeder hat schon alles versucht, was in seiner persönlichen Möglichkeit liegt.“ Einem Krebspatienten schreibe man schließlich auch keine Schuld an seiner Erkrankung zu.
Nicht alle Patienten mit Prädiabetes sind übergewichtig. Hier gewinnen körperliche Bewegung, gesündere Ernährung und Stressreduktion als Stellschrauben noch mehr an Bedeutung. Bei einigen der Faktoren ist es jedoch schwierig, auf persönlicher Eben etwas dran zu verändern – gesamtgesellschaftliche Änderungen sind gefragt. „Wenn ich im Beruf Stress habe, zum Beispiel durch Schichtarbeit, dann lässt sich das reduzieren. Wenn ich aber Zukunftsangst habe, Angst vor dem Abstieg, sind das ungünstige Faktoren der heutigen Zeit. Ich habe auch Sorge, dass viele Bevölkerungsschichten dazu neigen, sich immer billigere Lebensmittel zu kaufen, welche oft ungesünder sind. Deswegen beispielsweise die Forderung der DDG nach der Reduzierung der Mehrwertsteuer auf gesunde Lebensmittel.“ Solche steuerlichen Maßnahmen könnten zur Reduktion des Zuckergehalts in Fertiglebensmitteln beitragen, ohne die Bevölkerung zusätzlich zu belasten.
Jenseits des Lifestyles gibt es grundsätzlich natürlich auch die Möglichkeit einer pharmakologischen Frühintervention, zum Beispiel durch frühzeitige Einnahme des Antidiabetikums Metformin. Dazu sagt Fritsche aber deutlich: „Das wird derzeit nicht empfohlen.“ Eine Studie aus den USA habe gezeigt, dass die Lebensstilintervention im Vergleich zur Metformin-Gabe bei Menschen mit Prädiabetes überlegen sei. Die Gabe von Antidiabetika empfehle sich erst dann, wenn der Patient bereits Diabetes hat.
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