Klassentreffen in Sachen Diabetes: Beim Zuckergipfel in Stockholm punkten GLP-1-Agonisten, warmer Tee und kaltes Wasser.
In den letzten Jahren hat sich die Schlagfrequenz in der klinischen Diabetes-Forschung spürbar erhöht. Zum einen wird – die Prävalenzen steigen – mehr Geld in die therapeutische, wie auch die präventiv ausgerichtete, Forschung investiert. Zum zweiten gibt es neue Medikamentenklassen, die nicht nur mit traditionellen oralen Antidiabetika, sondern auch mit dem Insulin konkurrieren. Der dritte Faktor, der die Diabetes-Forschung beflügelt, ist die kontinuierliche Glukosemessung (CGM). Sie zwingt die Diabetes-Community, sich genauer als bisher zu überlegen, was eigentlich eine „gute“ Diabetes-Einstellung ist – mit allen Konsequenzen, die solche (Neu-)Definitionen therapeutisch haben können.
Bei der ersten großen europäischen Diabetologietagung seit Beginn der Pandemie, dem EASD 2022 Kongress in Stockholm, war all das und vieles mehr Thema. Starten wir mit der CGM: In Stockholm stellte Jean-Pierre Riveline, Endokrinologe in der Diabetes-Abteilung des Hôpital Lariboisière in Paris, eine Follow-up-Auswertung der RELIEF Studie vor. RELIEF ist eine Real-Life Studie zum CGM, die eine Datenbank nutzt, die 74.000 Menschen mit Typ 1 oder Typ 2 Diabetes umfasst.
Die jetzt vorgestellte Auswertung bezog sich auf knapp 6.000 insulinpflichtige Patienten mit Typ-2-Diabetes, die seitens der Insulintherapie nur mit Basalinsulin behandelt wurden. Analysiert wurde die Rate an Krankenhauseinweisungen 12 Monate vor und nach Beginn eines CGM. Der Effekt war eindrücklich: Um ganze 67 % gingen die Krankenhauseinweisungen nach unten. Getrieben war das vor allem durch eine 75-prozentige Reduktion der Ketoazidosen.
Von der Zuckermessung zur Zuckersenkung, und hier gibt es derzeit keinen Diabetes-Kongress ohne GLP-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA). Diese Medikamente werden, ähnlich wie SGLT2-Hemmer, nicht zuletzt zur Senkung des kardiovaskulären Risikos bei Typ-2-Diabetes-Patienten (und zunehmend darüber hinaus) empfohlen. Linda Mellbin vom Karolinska Institut berichtete in Stockholm über eine Analyse der kardiovaskulären Endpunkte in den SUSTAIN 6 und PIONEER 6 Studien – zwei Studien mit dem GLP-1-RA Semaglutid. Der Fokus der Post-hoc-Auswertung lag dabei auf den Effektgrößen bei unterschiedlichen HbA1c-Werten. Man kann es kurz machen: Der kardiovaskulär protektive Effekt von Semaglutid lässt sich über das gesamte HbA1c-Spektrum nachweisen.
Zu den interessantesten Inhaltsstoffen der aktuellen pharmazeutischen Diabetes-Pipeline gehört das kürzlich in den USA zugelassene Tirzepatid. Es wirkt als dualer Rezeptoragonist einerseits am GLP-1 Rezeptor, andererseits am Rezeptor für das glucoseabhängige, insulinotrope Polypeptid (GIP). Die duale Wirkung führt über die GLP-1-RA Wirkung hinaus insbesondere zu ausgeprägten fettmetabolischen Effekten mit deutlicher Senkung von Triglyceriden, LDL- und Gesamtcholesterin sowie einer relevanten Gewichtsabnahme. Gezeigt wurde das unter anderem in der SURPASS 4 Studie, an der fast 2.000 Patienten mit Typ-2-Diabetes und hohem kardiovaskulärem Risiko teilnahmen, die entweder mit Tirzepatid oder mit Insulin glargin behandelt wurden.
Aus dem Datenschatz dieser Studie gab es in Stockholm gleich mehrere nachträgliche Analysen. Tamás Várkonyi von der Universität in Szeged, Ungarn, hat sich angesehen, inwieweit die Lipideffekte von Tirzepatid von einer begleitenden Lipidtherapie abhängen. Ergebnis: Kaum. „Tirzepatid senkt Triglyceride, LDL und Gesamtcholesterin unabhängig davon, ob es eine Begleittherapie mit Fibraten oder Statinen gibt oder nicht“, so Várkonyi.
In einer weiteren neuen Auswertung ging es darum, wie sich Tirzepatid auf die Progression einer chronischen Nierenerkrankung beim Typ 2 Diabetes auswirkt. Die Nierenfunktion wurde als geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) und als Urin-Albumin-Kreatinin-Ratio (UACR) gemessen. Die parallel im Lancet veröffentlichten Daten zeigen, dass die anhand dieser beiden Parameter gemessene Abnahme der Nierenfunktion bei Tirzepatid-Therapie deutlich geringer ausfällt. Die Abnahme der eGFR war bei Insulin glargin Therapie mehr als doppelt so ausgeprägt, und die UACR nahm im Insulin-Arm der Studie im Mittel um 37 % zu, während sie im Tirzepatid-Arm um knapp 7 % abnahm.
Zur Prävention. Ausgewogene und nicht zu reichhaltige Ernährung und körperliche Bewegung gelten als die Königswege zur Prävention des Typ-2-Diabetes. Das ist in dieser Pauschalität so weit unstrittig, auch wenn zunehmend diskutiert wird, ob Diabetes-Prävention nicht stärker personalisiert werden sollte, um erfolgreicher zu werden. Bei der EASD Konferenz war die Typ-2-Prävention in einer Reihe von Einzelstudien Thema, die, weil sie so schön plakativ sind, für viele Schlagzeilen sorgten.
Die wahrscheinlich am meisten medial berichtete Arbeit der Stockholmer Konferenz war eine chinesische epidemiologische Analyse auf Basis der China Health and Nutrition Survey (CHNS) Kohorte, die sich den Zusammenhang zwischen Typ-2-Diabetes und Teetrinken angesehen hat. Die präsentierte Analyse bezog sich auf 5.199 erwachsene Studienteilnehmer, die im Jahr 1997 keinen Typ-2-Diabetes hatten. Beim Follow-up im Jahr 2008 betrug die Typ-2-Prävalenz dann 10 %. Knapp 46 % der Studienteilnehmer waren regelmäßige Teetrinker. Interessant ist, dass die mediale Berichterstattung sich auf eine aktualisierte Metaanalyse fokussierte, die die Chinesen unter Einbeziehung der eigenen Kohorte in Stockholm vorstellten. Auf Basis von dann insgesamt 19 Kohorten zeigte sich eine negative Korrelation zwischen Typ-2-Diabetes und Teetrinken dahingehend, dass Menschen, die eine bis drei Tassen Tee täglich tranken, eine um 4 % (RR 0,96; 95 % CI 0,91–1,00) reduzierte und Menschen, die vier und mehr Tassen Tee täglich tranken, eine um 17 % (RR 0,83; 95 % CI 0,76–0,90) reduzierte Typ-2-Inzidenz aufwiesen.
Was bei all der Teebegeisterung etwas unterging: In der eigenen CHNS-Kohorte der Chinesen konnte kein Zusammenhang zwischen Teekonsum und Typ-2-Diabetes gefunden werden. Auch eine Reihe von Diabetesexperten und Statistikern, die vom Science Media Center UK befragt wurden, äußerten sich skeptisch, ob dieser Zusammenhang wirklich kausal sei. Zumindest ist das Teetrinkerland Großbritannien nicht für besonders niedrige Typ-2-Inzidenzen bekannt.
Wer warmen Tee nicht so mag, der mag vielleicht kühle Luft. Eine Studie von Adam Sellers und Kollegen von der Universität Maastricht hat untersucht, ob und wie sich wiederholte Kälteexposition auf die Typ-2-Inzidenz auswirkt. Was erstmal abenteuerlich klingt, hat einen biologischen Hintergrund. Schon länger ist bekannt, dass Glukose schneller aus dem Blut entfernt wird, wenn Menschen frieren bzw. wenn es sehr kühl ist.
Angeschuldigt dafür wird zum einen braunes Fettgewebe, das lange Zeit als „Kinderfett“ galt, bevor es dann auch bei Erwachsenen in begrenztem Umfang nachgewiesen wurde. Braunes Fettgewebe dient der Wärmeerzeugung: Glukose, die dorthin wandert, wird über diverse metabolische Zwischenschritte verfeuert, und nicht per Liponeogenese in neue (weiße) Fettdepots verwandelt. Ein anderer Grund für die raschere Glukose-Clearance könnte das Frösteln sein, das bekanntlich mit Muskelaktivität einhergeht, die ihrerseits als Nebenprodukt Wärme produziert.
Beide Erklärungsansätzte haben so ihre Tücken. Vor einigen Jahren wurde gezeigt, dass zehn Tage einer milden Kälteexposition – 14 bis 15 Grad, sechs Stunden am Tag – die Insulinsensitivität bei Typ-2-Diabetes deutlich verbesserten. Größere Effekte auf das braune Fettgewebe fanden sich damals jedoch nicht, wohl aber eine verstärkte Aktivität des Glukosetransporters GLUT4 in den Muskeln.
Die Niederländer haben sich das jetzt etwas genauer angesehen. Sie haben bei 15 übergewichtigen Menschen zehn Tage in Folge jeweils so lange die Temperatur gesenkt, bis das Muskelzittern losging. In diesem Frier-Stadium wurden sie dann jeweils eine Stunde lang gehalten. Umgesetzt wurde das Ganze mit einem wasserdurchströmten Neoprenanzug, und das Kältezittern wurde sowohl visuell als auch mit Hilfe elektrischer Sensorplatten überwacht. Vor und nach dieser Aktion wurde jeweils unter thermoneutralen Bedingungen ein oraler Glukosetoleranztest durchgeführt.
Im Ergebnis fand sich eine Verbesserung der Nüchternglukose und Glukosetoleranz um jeweils einige wenige Prozent. Demgegenüber gab es, anders als in der Studie vor einigen Jahren, überhaupt keine Veränderung der GLUT4-Aktivität. Das spreche eher dagegen, dass die metabolischen Effekte unmittelbar auf die Muskelaktivität zurückgingen, so die Wissenschaftler. Möglicherweise laufen die Effekte über den Fettstoffwechsel: Nüchterntriglyzeride bzw. freie Fettsäuren sanken um ein Drittel bzw. ein Neuntel. Interessanterweise ging auch der systolische Blutdruck um 10 mmHg nach unten. So richtig erklären können sich die Niederländer das alles noch nicht. Aber die Forschung muss ja auch weitergehen können.
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