Virologen haben einige Corona-Varianten im Blick, die uns in den nächsten Monaten begleiten könnten. Werden sich die Nachfolger der BA.2- oder der BA.5-Linie durchsetzen? Unser Überblick.
Mit dem nahenden Herbst steigt auch die Sorge vor einer neuen Corona-Welle. Welche Varianten sich durchsetzen werden, steht zwar noch in den Sternen, aber ein paar virale Kandidaten bringen dafür beste Voraussetzungen mit. Was auffällt: Die Omikron-Variante bringt einen erfolgreichen Spin-Off nach dem anderen heraus. Insbesondere die Subvarianten BA.2 und BA.5 scheinen derzeit freudig zu mutieren, was zur Folge hat, dass Varianten mit neuen kryptischen Namen entstehen wie BA.2.75.2, BA.2.3.20, BR.1, BF.7 und BQ.1.1 – um nur einige zu nennen.
Obwohl BA.2 schnell von den Varianten BA.4 und 5 verdrängt wurde, hat sie inzwischen noch einige Nachfolger hervorgebracht. Der bekannteste Abkömmling der Omikron-Subvariante BA.2 ist derzeit BA.2.75. Diese in Medien auch als Centaurus bezeichnete Variante breitete sich im Mai 2022 zunächst in Indien und anschließend auch in anderen Teilen der Welt aus. Seit Juli ist sie vom European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) als Variant of Interest (VOI) eingestuft. Verglichen mit der Variant of Concern (VOC) BA.2 weist die Subvariante 9 weitere – womöglich funktionell entscheidende – Mutationen im Spike-Protein auf. Deswegen befürchtete man, dass sie dem Immunsystem noch besser ausweichen könnte als BA.2.
Mutationen von BA.2.75 im Spike-Protein
Auch die rasante Ausbreitung in manchen Gebieten deutete auf einen besonderen Wachstumsvorteil hin: So wie die Omikron-Subvariante BA.2 offensichtlich einen Vorteil über BA.1 besaß, weswegen sie diese letztlich verdrängte, könnte auch BA.2.75 einen Vorteil haben. Dagegen spricht allerdings, dass sich BA.2.75 bisher eben nicht überall durchsetzen konnte. Gegen die derzeit weltweit vorherrschenden Varianten BA.4 und 5 scheint sie keine Chance zu haben. Auch in Deutschland ist die Variante laut RKI selten. Inzwischen haben auch mehrere Studien, darunter eine deutsche Veröffentlichung, in vitro zeigen können, dass die Variante offenbar nicht immunevasiver als ihr Vorgänger ist.
Beim direkten Nachfolger von BA.2.75, nämlich BA.2.75.2, scheint das anders zu sein. Er ist sogar laut ersten Untersuchungen sehr viel besser darin, dem Immunsystem zu entkommen als die Super-Variante BA.5. Einige Wissenschaftler, wie etwa Virologe Dr. Thomas Peacock vom Imperial College London, geben ihr deswegen die besten Chancen für einen Platz auf dem Corona-Treppchen im Herbst.
Zusätzliche Mutationen von BA.2.75.2 im Spike-Protein
In einer aktuellen Studie haben sich Forscher um Youchun Wang aus Peking einige neue Varianten besonders detailliert angeschaut, darunter auch BA.2.75.2. In Laborexperimenten untersuchten sie, ob sich die neuen Omikron-Subvarianten den neutralisierenden Antikörpern von Geimpften mit oder ohne Durchbruchsinfektion mit BA.1, BA.2 oder BA.5 enziehen können. Verglichen mit allen anderen untersuchten Subvarianten konnte BA.2.75.2 den neutralisierenden Antikörpern von dreifach Geimpften und gleichzeitig Genesenen am besten ausweichen. Allerdings wurden die Teilnehmer im Vorfeld mit CoronaVac geimpft; Studien deuten darauf hin, dass der Totimpfstoff per se eine schlechtere humorale Immunantwort auslöst als mRNA-Impfstoffe.
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Ähnliche Ergebnisse erzielte auch eine schwedische Preprint-Studie, in der Seren von Blutspendern auf ihre Virusneutralisation hin getestet wurden. BA.2.75.2 wurde dabei im Durchschnitt bei Titern neutralisiert, die rund 6-mal niedriger waren als bei der BA.5.-Variante, welche laut der Autoren die resistenteste bisher charakterisierte Variante darstellt. Auch der therapeutische Antikörper-Mix Tixagevimab/Cilgavimab (Evusheld) konnte in ihren Experimenten nichts gegen die neue Variante ausrichten: BA.2.75.2 entzog sich den Antikörpern komplett. Immerhin war Bebtelovimab – ebenfalls ein therapeutischer Antikörper – gegen BA.2.75.2 noch wirksam.
Mit Blick auf die Sequenzierungsdaten aus den USA und UK springt eine weitere Variante ins Auge: BA.4.6, ein Nachkomme der BA.4-Sublinie. Sie weist im Vergleich zu BA.4 die Mutation R346T im Spike-Protein auf. Laut des aktuellen Corona-Briefings der UK Health Security Agency lag die Verbreitung von BA.4.6 bei ihrer Entdeckung Mitte August in UK bei 3,31 % – Tendenz steigend. Ähnliches zeigt sich auch in den USA. Laut CDC liegt der Anteil von BA.4.6 dort inzwischen schon bei 10 %.
Auch die Omikron-Subvariante BA.5 bringt immer neue Unterlinien hervor. Inzwischen sind es so viele, dass die Abkömmlinge schon nicht mehr die Zahl 5 in ihrem Namen tragen. Das liegt an den Regeln des Pangolin-Nomenklatursystems. Demnach darf eine Sublinienbezeichnung maximal drei Zahlen (z.B. BA.5.3.1) beinhalten. Spaltet sich eine Linie weiter auf, so wird der Sublinie der nächste Buchstabe zugewiesen. Deswegen gibt es inzwischen nicht nur als BA.5 bezeichnete Sublinien, sondern auch solche mit der Buchstabenkombination BE. oder BF.
Die oben erwähnten chinesischen Forscher haben einige diese BA.5-Nachkommen untersucht und fanden in ihren Experimenten heraus, dass eine dieser neuesten BA.5-Varianten ganz besonders immunevasiv ist: BQ.1.1 konnte im Laborsetting mit der Variante BA.2.75.2, was die Immunflucht angeht, leicht mithalten. Das könnte daran liegen, dass beide R346-Mutationen aufweisen – wie übrigens auch BA.4.6. Wie sich die Subvariante im echten Leben schlägt, lässt sich derzeit noch nicht sagen. In der Science-Bubble auf Twitter sorgt sie trotzdem schon für Aufregung. Der Grund: Seit ihrer Entdeckung Anfang September wird sie immer öfter sequenziert.
Die chinesischen Forscher nennen das schnelle und gleichzeitige Auftauchen dieser zahlreichen Omikron-Subvarianten beispiellos. Bemerkenswert sei zudem, dass die Subvarianten zwar von verschiedenen Vorgängern abstammen, aber viele ähnliche Mutationen im Spike-Protein aufweisen. Sie haben auch gleich eine Erklärung dafür in petto, warum derzeit dieser als Konvergenz bezeichnete Prozess stattfindendet. Und das ist an dieser Studie – neben den Details zu den Sorgenkindern BA.2.75.2 und BQ.1.1 – besonders interessant.
Das Stichwort lautet „Immunprägung“ bzw. Antigen-Erbsünde und wurde im Zuge der Pandemie schon häufiger als Erklärung nachlassender Immunität gegen SARS-CoV-2 herangezogen. Bei der Immunprägung werden im Verlauf einer erneuten Infektion bei Geimpften oder Genesenen vor allem solche Antikörper gebildet, die an die Epitope des ursprünglichen Erregers binden. Ähnlich wie bei BA.1-Durchbruchsinfektionen, scheint die erneute Infektion mit BA.2 und BA.5 hauptsächlich B-Zellen zu aktivieren, die sich gegen den SARS-CoV-2-Wildtyp richten. Das konnten die chinesischen Forscher in ihrer Arbeit im Übrigen zeigen.
Aufgrund der humoralen Immunprägung führt die BA.2- und insbesondere die BA.5-Durchbruchsinfektion zu einer erheblichen Verringerung der Vielfalt an neutralisierenden Antikörper-Epitopen und zu einem erhöhten Anteil nicht-neutralisierender Antikörper – es entsteht eine „Immunlücke“, die sich verschiedene nachfolgende Varianten zu Nutze machen können.
Die Forscher spekulieren aufgrund ihrer Ergebnisse, dass Impf-Booster, die auf der BA.5-Varianten basieren, womöglich keine breite Wirkung haben werden – allerdings darf man nicht vergessen, dass es bisher keine Variante gibt, die sich der Immunantwort komplett enziehen kann. Immerhin stellt die in den Studien untersuchte Neutralisation durch Antikörper nur einen Teil der Immunantwort dar. T-Zellen, die sich nach einer Impfung und Infektion entwickeln, werden wohl auch weiterhin vor einem schweren Verlauf schützen.
Zudem sehen nicht alle Forscher in den Ergebnissen der Arbeitsgruppe Hinweise für eine Immunprägung. Virologe Leif Erik Sander etwa schreibt auf Twitter, dass die Ergebnisse eine „deutlich verbreiterte Serumneutralisation nach BA.5-Infektion in 3x Geimpften“ zeigen würden und eben nicht nur einen präferentiellen Boost der Wildtyp-Antikörper. Deswegen sehe er auch „keine Hinweise, dass Exposition mit adaptiertem Impfstoff / Virus nicht zu einer Diversifizierung des Antikörper-Repertoirs führen sollte.“
Wie lange der Siegszug der Omikron-Varianten noch anhält, bleibt abzuwarten. Eine andere Möglichkeit ist, dass eine Variante aus einem anderen Zweig des Corona-Stammbaums abseits von Omikron die Immunlücke ausnutzt und die Führung übernimmt. So oder so: Virologen weltweit haben die Entwicklung genau im Blick.
Bildquelle: Joshua Golde, unsplash