„Die Adipositas-Pandemie ist ein größeres und schlechter gelöstes Problem als die Covid-Pandemie.“ Aber wie können Ärzte richtig behandeln? Lest es in unserem großen Überblick.
Das Thema Adipositas wirft immer noch viele gesundheitliche und forschungsrelevante Fragen auf. Welche Behandlungsmethode ist wann und wie am sichersten? Was macht mehr Sinn – medikamentöse, operative oder doch endoskopische Therapieansätze? Was sind die jeweiligen Vor- und Nachteile? Darüber diskutierten Experten bei der Viszeralmedizin, dem größten Kongress für Gastroenterologie und Viszeralchirurgie im deutschsprachigen Raum.
„Die Adipositas-Pandemie ist ein größeres und schlechter gelöstes Problem als die Covid-Pandemie“, mit diesen eindeutigen Worten eröffnet Prof. Stephan C. Bischoff, Leiter des Lehrstuhls für Ernährungsmedizin der Universität Hohenheim in Stuttgart und wissenschaftlicher Leiter der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) die Diskussion zur interdisziplinären Behandlung von Adipositas. Denn die Adipositas-Zahlen steigen weltweit an und das Problem kann nur durch interdisziplinäre Zusammenarbeit gelöst werden.
Wenn man über Ernährung, Übergewicht und Diabetes spricht, kommt man nicht um das Thema Mikrobiom herum. Aber wie viel Mikrobiom gibt’s eigentlich im menschlichen Gastrointestinaltrakt beziehungsweise im Dickdarm? Darüber wird seit jeher viel Diskutiert. Das Problem: Die Zahlen dazu sind veraltet und nicht aussagekräftig. „Die beste Schätzung, die wir zurzeit haben, sind etwa 100–250 Gramm bakterielle Biomasse, die sich im menschlichen Dickdarm aufhält“, erklärt Ernährungswissenschaftlerin Prof. Hannelore Daniel.
Ebenfalls heiß diskutiert: Was macht ein gesundes Mikrobiom eigentlich aus und gibt es so etwas überhaupt? „Ob und wie man ein gesundes Mikrobiom definieren kann, ist eine wichtige und augenscheinlich einfache Frage – aber mit einer komplexen Antwort, die stetig verfeinert und angepasst werden muss“, zitiert Daniel eine aktuelle Studie zu dem Thema. Viele Forschungen sehen allerdings eine hohe Diversität des Mikrobioms als erstrebenswert und gesund an. Das würde jedoch – laut Daniel – implizieren, dass man wisse, was ein gesundes Mikrobiom ausmacht und das ist aktuell nicht der Fall.
Das Feld rund um das Gewichtsmanagement anhand des Mikrobioms wurde maßgeblich von der Forschung von Jeffrey Gordon und seinen Kollegen beeinflusst. Er konnte zeigen, dass keimfreie Mäuse, die Mikrobiota von adipösen Zwillingen transplantiert bekommen, ebenfalls adipös werden. Hingegen bleiben Mäuse, die Mikrobiota von schlanken Zwillingen bekommen haben, ebenfalls schlank. „Hier wurde also suggeriert, dass das Mikrobiom substanziell am Gewichtsmanagement von Säugetieren beteiligt ist“, erklärt Daniel. Das große Manko: Die Forschung wurde an keimfreien Mäusen durchgeführt und kann nur schwer auf den Menschen übertragen werden. „Mit Befunden aus keimfreien Mäusen muss man sehr vorsichtig sein – ich halte sie für problematisch in der Beurteilung“, ergänzt die Wissenschaftlerin.
Ebenfalls sei in Mausstudien gezeigt worden, dass manche Antibiotika das Mikrobiom radikal reduzieren können. Auch beim Menschen gibt es starke Mikrobiom-Veränderungen durch Antibiotika. So reduzierte Amoxicillin die Dichte der Bakterien, bei Vancomycin kam es zu einer Veränderung im Spektrum der Bakterien. „Selbst so markante Veränderungen der Mikrobiota hatten keine nennenswerte Auswirkungen auf das Gewicht oder die Insulinresistenz. Ich glaube also nicht, dass das Mikrobiom zu einem Quantensprung der Adipostias-Therapie führen wird“, fasst Daniel ernüchternd zusammen.
Antibiotika und mikrobiotische Veränderungen sind also nicht die Zukunft der Adipositas-Therapie. Aber was dann?
Die große Herausforderung der Adipositas-Therapie ist, egal bei welcher Methode, die Compliance. Die Patienten müssen sich an strenge Vorgaben halten und versuchen, das über Jahre entstandene Übergewicht in unrealistisch kurzer Zeit abzunehmen. „Das ist auch das Problem der meisten Adipositas-Programme. Man muss dem Patienten klar machen: Es muss langsam gehen und die Kunst besteht nicht im Abnehmen, sondern im Halten des Gewichtes“, bestätigt auch Prof. Jürgen-Michael Stein.
Bei der konservativen Therapie zur langfristigen Gewichtsreduktion kommt es vor allem auf eine Kombination aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie an, um langfristige Erfolge zu erzielen. „Letzteres ist dabei sicherlich der Schlüssel zum Erfolg“, bestätigt Prof. Stein. Adipositas muss lebenslang begleitet werden. Alleine gelassen werden die Patienten sukzessive wieder zunehmen. „Das Therapieprogramm ist in Deutschland noch sehr schlecht strukturiert – hier gibt es noch sehr viel zu tun“, konkludiert Stein.
Sollten Diäten und die dazugehörigen Maßnahmen nicht zur gewünschten Gewichtsreduktion führen, können chirurgische Maßnahmen ergriffen werden.
In der aktuellen Adipositas-Leitlinie sind 6 Standardverfahren zur operativen Behandlung von Adipositas beschrieben: Magenband, Schlauchgastrektomie, Proximaler Roux-en-Y Magenbypass (RYGB), Omega-Loop-Magenbypass (OLGB), Biliopankreatische Diversion und Biliopankreatische Diversion mit Duodenalswitch. „Magenbänder werden kaum noch gemacht. Die komplexen Endeingriffe sind zunehmend verpönt, wegen ihrer starken absorptiven Nebenwirkungen, und werden mittlerweile als Reserveverfahren angesehen – sind aber keineswegs Standard bei der Wahl des Primäreingriffes. Die meist genutzten Verfahren sind demnach Schlauchmagen, RYGM und OLGB“, ordnet Prof. Arne Dietrich, Leiter des Klinikbereichs Adipositas-, Metabolische und Endokrine Chirurgie des Universitätsklinikums Leipzig die aktuelle Operations-Situation in Deutschland ein.
Verglichen mit dem Rest Europas sind in Deutschland die Zahlen für operative Eingriffe zur Adipositas-Behandlung noch eher gering. Während in Skandinavien 2015 die OP-Quote bei 100 pro 100.000 Einwohner war, lag sie in Deutschland bei 10 pro 100.000 Einwohner – 2019 stieg diese Zahl auf 17 pro 100.000 Einwohner. „Jedoch operieren wir in Deutschland die schwersten und die ältesten Patienten“, ergänzt Prof. Dietrich.
Mit operativen Eingriffen können große Gewichtsverluste in relativ kurzer Zeit erreicht werden. Nach 5 Jahren verzeichnen Schlaumagen-Patienten beispielsweise 50 % Gewichtsverlust und die Diabetes-Remission beträgt rund 60 %. Beim Bypass liegen die Werte sogar bei über 60 % beziehungsweise 75 %.
„Die Schlauchmagenbildung ist mittlerweile die häufigste Operation weltweit“, so Dietrich. „Der größte Vorteil des Schlauchmagens ist bestimmt, dass er technisch fast immer möglich ist, selbst im sehr hohen BMI-Bereich“. Zudem bestehen bei Nichterreichen des Therapieziels weitere Möglichkeiten – von einer weiteren Schlauchmagen-Operation bis hin zu einer Umwandlung in einen Bypass. Im Vergleich zu den Bypässen besteht eine geringere perioperative Morbidität bei gleichbleibender Mortalität. Außerdem kommt es zu keiner Malabsorption – Mangelerscheinungen sind deswegen seltener. Diese Operation wird auch bevorzugt bei Patienten mit Typ-1-Diabetes und chronisch entzündlichen Darmkrankheiten eingesetzt.
Gegen einen Schlauchmagen spricht, dass die Gewichtswiederzunahme stärker ist, als bei den Bypässen – bedingt durch die Dilatation des Schlauchmagens. Diese führt auch zu einer relative hohen Rate an Reoperationen von 20–40 %. Ebenfalls kann es zur Verschlechterung vorbestehender Refluxerkrankungen, bis hin zum Barrett-Ösophagus, kommen. Durch den hohen Druck im Magenschlauch kann es außerdem zu Fisteln an der Klammernaht kommen.
Das operative Verfahren ist beim klassischen Proximalen Magenbypass (RYGB) aufwändiger und mit mehr Komplikationen verbunden, als die Schlauchmagen-OP. Trotzdem hat sie, unter anderem durch die hormonellen Veränderungen, einige nicht zu vernachlässigende Vorteile: Die effektive Behandlung einer Refluxerkrankung, die Remission bei Typ-II-Diabetes sowie eine zuverlässige, langfristige Senkung des Körpergewichts. Durch den kleinen Magenpouch und die geänderte Nahrungspassage kommt es allerdings zu Malabsorptionen. Somit ist eine dauerhafte prophylaktische Substitution von Vitaminen und Mineralien erforderlich.
Als Alternative zum klassischen Magenbypass wird der Omega-Loop-Magenbypass immer beliebter. Die Operation ist weniger aufwändig als die des proximalen Bypasses, jedoch ist auch die Malabsorption durch die lange biliopankreatische Schlinge stärker ausgeprägt. „Mittlerweile rudert man auf Grund der schlechten Langzeitergebnisse diesbezüglich in der Länge der Schlinge auf bis zu 1,5 Meter zurück“, erläutert Dietrich. Es kommt allerdings zu weniger Hernien und die Operation kann durch den langen Pouch auch bei deutlich höherem BMI durchgeführt werden. „Die Typ-II-Diabetes-Remission ist besser im Vergleich zum proximalen Bypass, allerdings besteht das Risiko eines Gallenrefluxes und wir haben nach wie vor das Problem des Stumpfkarzinoms“, konkludiert Dietrich den Vergleich.
Zusammenfassend heißt das also, dass „bei Sodbrennen und Diabetes der RYGB zu empfehlen ist. Bei sehr hohem BMI über 60 ist oftmals nur ein Schlauchmagen oder Schlingenbypass möglich. Alle weiteren Verfahren, wie beispielsweise SASI (Single Anastomosis Sleeve Ileal Bypass), sind als experimentell anzusehen und – wenn überhaupt – nur unter Studienbedingungen durchzuführen.“
Die operativen Behandlungsmethoden für Adipositas sind zwar wirksam, aber auch höchst invasiv und kommen deswegen nicht für alle Patienten in Frage. Für Patienten, die sich nicht im sehr hohen BMI-Bereich befinden, ist deswegen oft eine weniger invasive Methode eine gute Alternative. Endoskopische Therapien könnten hier eine Behandlungslücke schließen.
Die endoskopische Schlauchmagengastroplastie (ESG) ist unter der Fülle der konzeptuellen endoskopischen Adipositas-Therapieoptionen sicherlich die Option mit dem größten Potential. „Was erfolgreich ist, wird kopiert – und chirurgische Therapien sind erfolgreich. Die Endoskopie versucht das zu imitieren, wählt dabei aber einen transoralen oder endoluminalen Zugang via Magenspiegelung“, erklärt Dr. Jocelyn de Heer, Fachärztin für Innere Medizin, Gastroenterologie und Endokrinologie an der Klinik und Poliklinik für interdisziplinäre Endoskopie (UKE), Hamburg.
Bei der endoskopischen Schlauchmagen-Operation soll die Magenwand gerafft und das Magenvolumen somit verkleinert werden. „Die endoskopischen Eingriffe sind weniger invasiv – allerdings auch weniger effektiv“, so de Heer. „Endoskopische Therapien stehen daher nicht in Konkurrenz zu operativen Methoden, sondern sind eine Ergänzung des Therapiespektrums und sollten dementsprechend bewertet werden.“
Der erzielte Gewichtsverlust ist bei endoskopischen Verfahren Studien zufolge zwar geringer als bei operativen Methoden– jedoch sind auch die Verweildauer im Krankenhaus sowie die Komplikationsrate geringer. Verglichen mit einer reinen Lebensstilveränderung (1 % total body weight loss nach einem Jahr) ist die endoskopische Schlauchmagen-OP in Kombination mit einer Lebensstiländerung allerdings deutlich effektiver (13 % total body weight loss nach einem Jahr).
„Eine ESG ist eine Methode, die sicher ist, nachhaltig über einen längeren Zeitraum Erfolge zeigen kann und stellt keine Kontraindikation für eine spätere bariatrische Operation dar“, konkludiert de Heer. Die Endoskopie könnte somit, laut de Heer, die Lücke zwischen Lifestyle-Optionen, medikamentöser und operativer Behandlung von Adipositas – besonders bei Patienten im BMI-Bereich von 30-40 – schließen. Allerdings fehlen aus Europa und Deutschland Langzeitdaten, die diese These stützen. Die meisten Daten stammen aktuell aus den USA und Südamerika.
Seien es Lifestyle-Änderungen, Diäten, Medikamente, chirurgische oder endoskopische Methoden – es geht bei einer gelungenen Adipositas-Behandlung nicht nur um die Gewichtsreduktion. Es geht vor allem auch um eine allgemeine Verbesserung der Lebensqualität. Die unterschiedlichen Verfahren stehen nur bedingt in Konkurrenz zueinander und sind gut kombinierbar, um ein gemeinsames Ziel, die Eindämmung der Adipositas-Pandemie, zu erreichen.
In die Zukunft blickend wird sicherlich die Reduktion der Muskelmasse bei den unterschiedlichen Verfahren eine große Rolle spielen. Die Verfahren, bei denen weniger Muskelmasse verloren geht, werden interessanter werden. Das sei ein Aspekt, der bei der Wahl der richtigen Therapie für die jeweiligen Patienten aktuell noch nicht genügend berücksichtigt wird, gibt Prof. Bischoff abschließend zu denken.
Bildquelle: Towfiqu barbhuiya, unsplash