Weit mehr als Genmais: Mit TTIP, dem geplanten Transatlantischen Handelsabkommen, wollen Europa und die USA ihre Wirtschaftssysteme stärker einander anpassen. Heilberufliche Leistungen und Arzneimittel sind ebenfalls betroffen. Über das Für und Wider streiten Experten.
Die EU-Kommission hat am 1. November ihre Arbeit aufgenommen. Als Gesundheitskommissar versucht Vytenis Andriukaitis, europäische Geschicke zu lenken. Der Litauer, vom Beruf Chirurg, blieb bei Fragen rund um gentechnisch veränderte Lebensmittel äußerst vage, sprach aber auch Klartext. So wollte Matthias Groote (SPD) wissen, welche Strategie Andriukaitis bei der Verankerung grenzüberschreitender Gesundheitsleistungen verfolgt. Er werde nicht zögern, gegenüber Mitgliedsstaaten Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, die entsprechenden Grundsätzen nicht nachkämen, so der Kommissar. Und weiter: „Ich verspreche Ihnen, dass es auf keinen Fall dazu kommt, dass Lebensmittel- und Gesundheitsstandards gesenkt werden.“
Ganz so klar schien die Sache anfangs nicht zu werden. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte unter anderem vor, die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) und die Zulassung von Medizinprodukten dem Industrieressort zu unterstellen. Ein medialer Proteststurm folgte – und Juncker knickte ein. „Gemeinsam mit anderen europäischen Apothekern haben wir uns für den Verbleib eines so wichtigen Verbraucherthemas wie der Arzneimittelzulassung im Gesundheitsressort ausgesprochen – und freuen uns nun darüber, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den bewährten Ressortzuschnitt beibehalten hat“, sagte ABDA-Präsident Schmidt. Bei den Freihandelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP) warnt der Spitzenverband vor verbraucherfeindlichen Liberalisierungen heilberuflicher Dienstleistungen. Schmidt weiter: „Die Verantwortung für die Gesundheitssysteme in Europa liegt aus gutem Grund bei den Nationalstaaten – und nicht in Brüssel. So haben sich in Deutschland aus Verbraucherschutzgründen die Prinzipien bewährt, dass Arzneimittel in die Apotheke gehören und nur ein Apotheker eine Apotheke führen darf. Wenn nun Freihandelsabkommen dieses Subsidiaritätsprinzip aushebeln, dann ist dies das falsche Signal für alle Patienten in Europa.“
Ähnliche Befürchtungen hat auch der GKV-Spitzenverband. „Wir sind nicht gegen den freien Handel und gegen den Abbau bürokratischer Hürden. Aber wir haben derzeit den Eindruck, dass ausschließlich die Interessen der Unternehmen im Mittelpunkt stehen. Dabei sollten die Bedürfnisse von Versicherten und Patienten Vorrang haben“, so die Vorsitzende Dr. Doris Pfeiffer. Hintergrund ihrer Befürchtung sind Schiedsgerichte, vor denen pharmazeutische Hersteller aller Länder klagen, falls gesetzliche Eingriffe ihre unternehmerische Freiheit einschränken. Dazu gehören unterschiedliche Regulationssysteme zur Preisgestaltung, Stichwort Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG).
Gerade bei Arzneimitteln gibt es weitere Problemfelder. Eine gegenseitige Anerkennung von Zulassungen ist derzeit nicht im Gespräch. Verhandlungskommissionen sprechen von „bilateralen Verpflichtungen“ wie der Akzeptanz von GMP-Inspektionen im Partnerland. Bei Biosimilars wollen Verantwortliche die Zulassungssysteme harmonisieren, und bei Generika soll dieser Prozess auch zeitlich gestrafft werden, heißt es von den EU-Verhandlern. Um Kinderarzneimittel leichter auf den Markt zu bringen, ist von gemeinsamen Konzeptionen klinischer Studien die Rede. Defizite sehen europäische Verhandlungsführer vor allem bei der eindeutigen Benennung von Arzneistoffen und galenischen Zubereitungen. Konzepte der gemeinsamen Bewertung neuer Präparate fehlen ebenfalls. Damit sind nicht alle Probleme vom Tisch, Stichwort Heilmittelwerbegesetz: In der europäischen Union gelten für Konzerne etliche Einschränkungen bei Rx-Präparaten. US-Unternehmen sprechen Patienten direkt an. Darüber hinaus befürchten forschende Hersteller mögliche Lockerungen beim Schutz von Geschäftsgeheimnissen.
Andere Interessenvertretungen äußern sich wesentlich optimistischer. „Das derzeit in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA (TTIP) kann für die stark exportorientierte Medizintechnikbranche zusätzliche Wachstumspotenziale heben“, sagt Marcus Kuhlmann, Leiter des Fachverbandes Medizintechnik bei SPECTARIS. Branchenangaben zufolge summieren sich Exportquoten in diesem Bereich auf gut und gerne 68 Prozent. Mit knapp 18 Prozent sind die USA zum wichtigsten Zielland geworden. Firmen hoffen jetzt, allein durch einen kompletten Verzicht auf Zölle könnte der Absatz bereits gesteigert werden. Fallen unterschiedliche Normen, Standards und Zertifizierungen, gelingt es ihnen noch leichter, jenseits europäischer Grenzen Fuß zu fassen. Genau hier scheiden sich die Geister.
Während der Fachverband Medizintechnik mit doppelten Zulassungen für Medizinprodukte nach der Maxime „once approved, everywhere accepted“ spekuliert, hofft der GKV-Spitzenverband auf strengere Regularien. „Besonders der Marktzugang und die Überwachung sind nach unserer Auffassung in den USA besser und transparenter geregelt als in Europa“, heißt es in einer Stellungnahme. Versicherer schreiben, in Europa würden Patienten von einer Anpassung europäischer Standards an das US-amerikanische System profitieren. Beispielsweise veröffentlicht die Food and Drug Administration (FDA) Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit sowie bereits bekannte Gefahrenpotenziale. Als Maßnahme gegen derzeit nicht kompatible Produktkennzeichnungen in der EU und den USA planen sie ein neues, gemeinsames System inklusive einheitlicher Kennzeichnung und Möglichkeiten der Nachverfolgung.
Viele Kontroversen, viele Fragen. Eigentlich wollten die USA und Europa ihr Vertragspaket Ende 2014 abschließen. Vom öffentlichen Widerstand überrascht, sind beide Delegationen vorsichtiger geworden. Ab Februar 2015 stehen umstrittene Investorenschutzregeln zur Debatte, die einige EU-Länder am liebsten ganz aus dem Vertrag verbannen würden. Der Bundestag wird frühestens im Jahr 2017 über TTIP abstimmen.