SCHWARZBUCH | Eine Frau liegt mit Oberschenkelhalsbruch unter Schmerzen in ihren Ausscheidungen, verzweifelt auf die OP wartend. Ein Baby fällt bei der Geburt auf den Boden des Kreißsaals. Alltag in deutschen Kliniken – weil das Personal fehlt.
Um zu zeigen, dass die Versorgung in deutschen Krankenhäusern flächendeckend an ihre Grenzen gekommen ist, wurde das Projekt Schwarzbuch Krankenhaus ins Leben gerufen. Auf der Internetseite schreiben die Initiatoren: „Wir, Arbeitende im Gesundheitssystem, berichten von Überlastung und Patientengefährdung im Arbeitsalltag. Die folgenden Erfahrungsberichte zeigen, wie die Gesundheitsversorgung in Deutschland wirklich ist.“
Wir bilden einen Teil der Erzählungen in leicht gekürzter Form auf DocCheck ab. Zu den Originaltexten und allen weiteren Berichten kommt ihr hier.
Ein Pfleger schreibt in seinem Bericht: „Die Notaufnahme ist mal wieder voll. Wir, das Pflegepersonal sind dauerhaft im Ausnahmezustand. Niemand von uns macht Pause, manche von uns schaffen es nicht mal, auf die Toilette zu gehen oder zu trinken. Letzteres hilft sogar, um das zur Toilette gehen müssen zu verhindern. Aber gut für die eigene Gesundheit ist es nicht.“
Er versorgt in der überfüllten Notaufnahme eine Patientin unter vielen. „Dabei priorisiere ich ständig, wie dringlich eine Aufgabe ist. Die Patientin hat einen Oberschenkelhalsbruch. Ansonsten sind ihr Kreislauf und ihr gesundheitlicher Zustand stabil. Sie liegt auf der Trage im Flur und wartet auf ihre Operation. Sie ist für die Operation nüchtern, hat seit Stunden nichts gegessen.“
Vor 30 Minuten hätte sie ihn und seine Kolleginnen nach Schmerzmitteln gefragt. „Keiner hatte Zeit.“
„Nach 1 ½ Stunden fragt sie unter Tränen erneut. Keiner hat Zeit. Nach 2 Stunden bekommt sie endlich Schmerzmittel, jetzt muss sie jedoch auf Toilette. Aber natürlich kann sie aufgrund des Oberschenkelhalsbruchs nicht allein auf die Toilette gehen. Die Notaufnahme platzt aus allen Nähten. Viele der Patienten sind kritisch und brauchen all unsere Aufmerksamkeit. Niemand aus dem Pflegeteam hat Zeit und Kapazitäten, um die Patientin beim Toilettengang zu begleiten. Keiner hat Zeit!“
„Nach drei Stunden hat die Patientin in die Hose gemacht. Sie fleht um Hilfe. Keiner hat Zeit. Nach vier Stunden, eine davon im eigenen Urin liegend, muss die Patientin Stuhlgang machen. Zudem hat sie wieder Schmerzen.“
Auch nach vier Stunden sei die Situation in der Notaufnahme immer noch maximal angespannt. Das Pflegeteam rotiere. Für eine Patientin unter Schmerzen und im eigenen Urin liegend gab es in diesem Dienst einfach keine Kapazität.
„Keiner hat Zeit! Mittlerweile ist die Patientin in Tränen ausgebrochen. Sie liegt weiterhin in ihrem eigenen Urin und Stuhl. Sie liegt auf dem Flur, hat Schmerzen und fleht um Hilfe. Es liegt nicht an uns. Wir würden ihr ja gerne helfen. Aber andere Patienten brauchen weiterhin unsere gesamte Kraft und Aufmerksamkeit, denn ihre Zustände sind kritischer. Nach fünf Stunden wird die Patientin in ihrem eigenen Urin und Stuhlgang liegend in den Operations-Bereich gefahren. Wie würdelos kann Krankenhaus bitte sein!“
Eine Hebamme berichtet aus ihrem ersten Lehrjahr: „Als ich im Frühdienst meinen Dienst begann, kam mir bereits eine gehetzte Hebamme entgegen. Sie alleine hatte in der Nacht fünf Frauen betreut, die alle in dieser Nacht ihre Kinder bekommen hatten. Nach Übergabe des Dienstes sagte meine mir zugeteilte Lehrhebamme, dass ich doch mal schnell auf das Neugeborene im Kreißsaal 1 schauen sollte. Das Neugeborene wäre um 3 Uhr nachts geboren worden und seitdem hätte die Hebamme aus dem Nachtdienst keine Zeit mehr gehabt, nach ihm zu schauen.“
Sie ging in den Kreißsaal und schaute nach dem Neugeborenen. „Ich sah, dass das Kind gräulich aussah und lethargisch. Der Muskeltonus war vermindert und mir war sofort klar, dass es diesem Neugeborenen nicht gut geht.“ Sie nahm das Kind auf den Arm um Hilfe zu suchen und traf im Flur auf eine junge Assistenzärztin, die auch sofort den Ernst der Lage erkannte. „Sie rief die Kinderärzte an und diese versorgten das Kind. Es stellte sich heraus, dass das Kind einen Blutzucker von 13mg/dl hatte. Der Mindestwert eines Neugeborenen sollte 45mg/dl nicht unterschreiten, denn dann wird das Kind behandlungsbedürftig. Eine Unterzuckerung bei einem Neugeborenen führt zur Reduzierung der Körperfunktionen (Anpassungsprobleme, Instabilität der Körpertemperatur) und greift schnell das Gehirn des Neugeborenen an. Im schlimmsten Fall kommt es zu irreversiblen Gehirnschäden.“
Das Kind wurde auf die Intensivstation verlegt. „Wie es dem Kind im Verlauf ging, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur noch, dass sich die Eltern bei uns bedankten, da sie der Meinung waren, wir hätten ihr Kind gerettet. Dass die ersten Symptome einer Unterzuckerung leicht zu erkennen sind (Tremor, Reduzierung der Körpertemperatur, gräuliche Hautfarbe) und dementsprechend auch leicht behandelbar, habe ich den Eltern an dieser Stelle nicht mitgeteilt. Hätte die Hebamme das Neugeborene engmaschig beobachten können – was zu den Aufgaben einer Hebamme gehört – wäre das Kind niemals in diesen Zustand gekommen.“
„Als ich dann fertig ausgebildete Hebamme war, gingen diese Erfahrungen leider weiter. Ich kann mich an einen Nachtdienst erinnern, in dem ich als Hebamme fünf Frauen betreute, davon drei aktiv unter der Geburt. Ich war alleine für fünf Frauen und fünf Kinder verantwortlich. Ich habe teilweise gar nicht mitbekommen, wer neu im Kreißsaal aufgenommen wurde (die Ärztin musste öfter an die Kreißsaaltür), da ich recht intensiv eine Erstgebärende betreute. Die diensthabende Ärztin hatte den Kreißsaal zwar abgemeldet, aber die Feuerwehr brachte dennoch zwei Frauen mit der Aussage: ‚Ja, auch die anderen Kreißsäle sind gesperrt.‘“ Plötzlich habe sie die diensthabende Ärztin ihren Namen schreien hören und obwohl die Erstgebärende bereits kurz vor der Entbindung war – der Kopf sei bereits zu sehen gewesen – eilte sie in den Kreißsaal, aus dem der Schrei kam.
„Ich sah eine Frau am Kreißsaalbett stehend, ein Neugeborenes auf dem Boden liegend und eine abgerissene Nabelschnur. Die Ärztin versuchte, die Frau ins Bett zu legen. Ich nahm das Kind – es war vital und schrie – legte es der Mutter schnell auf die Brust, klemmte die Nabelschnur ab und sagte nur schnell zur Ärztin: „Denk an die warmen Handtücher für das Kind, ich muss zurück zu der anderen Frau.” Dieses andere Kind kam wenig später zur Welt. Das Kind, welches auf dem Boden gestürzt war, musste von den Kinderärzten zur Beobachtung in ein anderes Krankenhaus verlegt werden. Man stelle sich das mal vor: Ein Kind stürzt auf den Boden, weil niemand da ist.”
„Die andere Frau wird kurz vor der Entbindung alleine gelassen – ganz zu schweigen von den anderen Frauen, die ich leider aufgrund des Personalmangels kaum betreuen konnte. Die Frauen vertrauen sich uns an, sind der Überzeugung, wir können uns um sie kümmern, sie betreuen.”
Weiterhin schreibt die Hebamme: „Ich möchte an dieser Stelle deutlich betonen, dass die jetzige Verschriftlichung dieses Nachtdienstes nicht annähernd widerspiegelt, welchen psychischen und körperlichen Belastungen ich ausgesetzt war, ganz zu schweigen, wie gefährdet die Frauen und die Kinder in dieser Nacht waren. Es gibt unzählige Fallbeispiele, in denen es akut zur Patientengefährdung kommt – einfach nur, weil nicht genügend Hebammen eingesetzt sind.”
Wenn auch ihr von Missständen in eurer Klinik berichten wollt, könnt ihr euch hier an Schwarzbuch Krankenhaus wenden.
Bildquelle: Brandon Holmes, Unsplash