Die Herstellung und Zulassung von Orphan Drugs, also Medikamenten zur Behandlung seltener Leiden, wird dank gelockerter gesetzlicher Auflagen teilweise immens beschleunigt. Das kommt den Betroffenen scheinbar zugute, allerdings wächst auch Kritik an diesem Konzept.
Seltene Krankheiten sind selten – Menschen mit seltenen Krankheiten sind dagegen häufig. Alleine in Deutschland leiden schätzungsweise rund 4,3 Millionen Menschen unter einer seltenen Erkrankung, damit ist jeder Zwanzigste betroffen. In den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind es insgesamt über 30 Millionen. Bis heute sind 6.000 bis 7.000 unterschiedliche Leiden mit Seltenheitswert bekannt, die dieser Definition entsprechen. Die große Zahl der Betroffenen spaltet sich in Tausende kleiner Indikationen auf. In Anbetracht des zeitlichen und finanziellen Aufwands für die Herstellung eines neuen Arzneimittels, lohnen sich Orphan Drugs für die Pharmaindustrie daher häufig nicht. Die Vereinigten Staaten schufen bereits 1983 den gesetzlichen Rahmen für den Umstand, dass sich im Fall von Orphan Drugs „die Kosten für die Entwicklung und Verfügbarkeit dieses Medikaments […] nicht über den Verkauf rentieren“, wie es im Orphan Drug Act heißt. Die Europäische Union zog erst 1999 mit der Verabschiedung einer Verordnung über Arzneimittel für seltene Krankheiten nach, die sich hinter der unscheinbaren Nummer 141/2000 verbirgt. Auch in Australien, Japan und Singapur existieren vergleichbare politisch geförderte Konzepte.
Der gesetzlich geschaffene Status der Seltenheit ist unmittelbar an die Prävalenz geknüpft und weist relevante regionale Unterschiede auf. Während in der EU weniger als 5 Fälle auf 10.000 Einwohner eine Krankheit zur Rarität machen, liegt die Grenze in den USA bei 7,5 Fällen pro 10.000 Einwohner. Der Anreiz für die Hersteller ist vornehmlich finanzieller Natur. Sobald der Orphan-Status eines in Entwicklung befindlichen Wirkstoffs durch ein Komitee (COMP) der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) zuerkannt wurde, profitieren die Unternehmen von Steuerersparnissen, Gebührensenkungen, beschleunigten Zulassungsverfahren und exklusiven Vermarktungsrechten für zehn Jahre. Allerdings beinhaltet dieses Paket auch die Hilfestellung beim Entwurf klinischer Studien – insbesondere bei Kindern, da sie eine große Patientengruppe unter den seltenen Erkrankungen ausmachen. Der vor mittlerweile 15 Jahren gestreute Samen trägt in der EU zusehends Früchte. Seit dem Inkrafttreten der Verordnung ist die Zahl zugelassener Orphan Drugs von fünf auf 69 Arzneimittel angestiegen, über 1.000 weitere Projekte mit Orphan-Status befinden sich in der Entwicklung – der Großteil wird allerdings niemals die Marktreife erreichen. Die Mehrheit der Zulassungen entfällt dabei auf den onkologischen Sektor, gefolgt von seltenen Stoffwechselstörungen. Der wohl populärste Vertreter der Nischen-Medikamente ist der Tyrosinkinase-Inhibitor Imatinib, der die Behandlung von hämatologischen Erkrankungen mit dem BCR-ABL-Fusionsgen revolutionierte und heute zu den umsatzstärksten Präparaten in Deutschland zählt.
Allerdings birgt dieser rasche Fortschritt auch einige Aspekte, die zunehmend kritisch betrachtet werden. Durch das seit 2011 herrschende Arzneimittel-Neuordnungsgesetz (AMNOG) wird die Sonderstellung der Orphan Drugs weiter gefördert. Im Gegensatz zu anderen Medikamenten muss ihr Zusatznutzen in vergleichenden Studien mit der bewährten Standardtherapie nicht unter Beweis gestellt werden. Stattdessen gilt die Marktzulassung durch die EMA als Orphan Drug stellvertretend für einen Nutzennachweis. Diese Verfahrensweise sei der Tatsache geschuldet, dass klinische Studien in diesem Bereich aufgrund der kleinen Patientenkollektive nicht den Qualitätsstandard üblicher Studien erreichen könnten: „Das ist kein Vorwurf“, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). „Wir wissen verdammt wenig über diese Arzneimittel. Wenn man einen Zusatznutzen deklarieren will, muss man mehr über sie wissen“, so Ludwig weiter. Demgegenüber steht ein vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) in Auftrag gegebenes Gutachten des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), demnach es bei seltenen Erkrankungen keine Gründe für eine von der Norm abweichende Herangehensweise gebe. Institutsleiter Jürgen Windeler erklärt: „Wie sich zeigt, ist ein methodischer Sonderweg bei Studien zu seltenen Erkrankungen weder notwendig noch ohne Qualitätseinbußen möglich“. Stattdessen schlagen die Wissenschaftler vor, sich überregionaler oder internationaler Datensätze anhand von Krankheitsregistern zu bedienen, um genügend Informationen zu sammeln.
Des Weiteren beunruhigt der „Mythos Orphanisierung“ viele Experten, wie die gleichnamige, kürzlich abgehaltene Veranstaltung zu dem Thema im November in Berlin zeigte. Der Vorwurf an die Pharmahersteller lautet, häufige Erkrankungen künstlich in seltenere Entitäten zu zerschneiden, um Indikationen für die subventionierte Orphan-Drug-Herstellung zu kreieren. „Für lediglich 44 von 7.000 seltenen Erkrankungen gibt es Medikamente“, entgegnet Andreas Reimann, der stellvertretende Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE). „Man kann also nicht ernsthaft von einer ‚Orphanisierung‘ sprechen. Das Problem ist vielmehr, dass es zu wenige Arzneimittel gibt.“ In diesem Zusammenhang fallen auch immer wieder die Begriffe „Slicing“ und „Trojaner“, also das Zerstückeln häufiger Krankheiten zu seltenen Indikationen sowie die Ausweitung auf weitere Indikationen nach der Erstzulassung als Orphan Drug, wie sie der Pharmaindustrie als Methoden zur Profitsteigerung vorgeworfen werden. Die biotechnologische Sparte des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (vfa bio) wehrt sich jedoch mit dem Verweis auf die Statuten der EMA, die „eine Aufteilung einer Indikation in kleinere „orphanfähige“ Subindikationen kategorisch“ ausschließe. Des Weiteren unterlägen auch bereits zugelassene Orphan Drugs den gleichen Zulassungsbeschränkungen wie alle anderen Medikamente, wenn sie zusätzlich bei häufigeren Krankheiten angewendet werden sollen: „In keinem Fall also können Orphan-Drug-Vorteile auf eine Nicht-Orphan-Indikation übertragen werden“, heißt es in dem Positionspapier der vfa bio.
Angefacht wird die Diskussion über den Sonderstatus der Orphan Drugs im Speziellen durch die Evolution von Imatinib. Ursprünglich im Jahr 2001 im Kampf gegen die Philadelphia-Chromosom-positive chronische myeloische Leukämie eingeführt, verfügt Imatinib mittlerweile über neun verschiedene Indikationen im hämatoonkologischen Bereich und hat sich weltweit zu einem Flaggschiff des Herstellers Novartis gemausert. Seit der Einführung stiegen die Umsatzzahlen jährlich bis zu einem globalen Betrag von knapp 4,7 Milliarden Euro im Jahr 2013. In Deutschland entfallen 42 % des Umsatzvolumens onkologischer Medikamente auf den Tyrosinkinase-Inhibitor und nähern sich der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegten Summe von 50 Millionen Euro Jahresumsatz, ab der für Orphan Drugs eine nachgelagerte Feststellung des Nutzennachweises gefordert wird. Mit Blick auf den Umsatz und die Indikationen anderer Orphan Drugs handelt es sich bei Imatinib allerdings um eine Ausnahme und nicht die Regel. Der überwiegende Anteil verfügt schlichtweg über die eine Indikation, für die das Medikament entworfen wurde.
Dank molekulargenetischer Analysen gelingt heutzutage eine präzisere Kategorisierung vieler Erkrankungen. Durch diesen Fortschritt entstehen neue Indikationen, wo vor Jahren noch von ein und derselben Krankheit die Rede war. Auf diese Weise lassen sich einzigartige Zielstrukturen identifizieren, um die medikamentöse Therapie zu optimieren, wie das Beispiel von Imatinib bei der CML unter Beweis gestellt hat. Die Herausforderung für Politik und Wissenschaft besteht darin, Anreize für die Pharmaunternehmen zu schaffen und gleichzeitig dem Patienten eine nicht um Jahrzehnte verzögerte evidenzbasierte Medizin zu liefern. Unabhängig von konkreten Strategien ist sich Christine Mundlos von der ACHSE sicher, dass „die Aufmerksamkeit für seltene Krankheiten weiter erhöht wird.“