Von A wie Antikoagulation bei valvulärem Vorhofflimmern bis Z wie zu viele Herzkatheter: Beim ESC-Kongress in Barcelona ist für jeden ärztlichen Geschmack was dabei. Die DocCheck News sind für euch vor Ort.
Der erste europäische Kardiologenkongress seit Beginn der Corona-Pandemie läuft noch. Aber was die Highlights angeht, wurde am Wochenende das Wesentliche berichtet. Als Trüffelschweine vor Ort haben wir für euch einen Korb voller aktueller Daten zusammengestellt. Fokus: Praxisrelevanz.
Die in Barcelona vorgestellte und parallel im New England Journal publizierte INVICTUS-Studie ist nach Angaben der Initiatoren die bisher größte randomisierte Studie zu valvulärem Vorhofflimmern. Jener (vergleichsweise seltenen) Variante des Vorhofflimmerns also, die auf dem Boden einer Klappenerkrankung nach rheumatischem Fieber entsteht. Das Ganze ist ein autoimmunologisches Geschehen in Reaktion auf einen Streptokokkeninfekt.
Neue orale Antikoagulanzien (NOAK) sind in dieser Indikation eine Off-Label-Behandlung, werden aber vielfach eingesetzt – auch wenn Leitlinien Vitamin K-Antagonisten (VKA) empfehlen. INVICTUS schließt jetzt eine Evidenzlücke: Die randomisierte, offene Nichtunterlegenheitsstudie verglich Rivaroxaban in Standarddosierung mit Antikoagulation per VKA, und zwar bei 4.565 Patienten aus 24 Ländern. Teilnahmebedingungen waren eine echokardiographisch dokumentierte, rheumatische Herzerkrankung mit Vorhofflimmern sowie zusätzlichen Risikofaktoren für Schlaganfall. Diese Risikofaktoren waren Mitralstenose mit Klappenfläche ≤ 2 cm², ein Thrombus bzw. entsprechendes Echosignal im linken Vorhof oder ein CHA2DS2VASc-Score ab 2 Punkten.
Der primäre Effektivitätsendpunkt bestand aus Schlaganfall, systemischer Embolie, Myokardinfarkt und vaskulärem Tod oder Tod unklarer Ursache. Primärer Sicherheitsendpunkt waren ISTH Major-Blutungen. Das Ergebnis kam in dieser Deutlichkeit etwas überraschend: Im Rivaroxaban-Arm hatten 8,26 % der Patienten pro Jahr ein primäres Endpunktereignis. Bei VKA waren es signifikant weniger, nur 6,46 % pro Jahr. Auch die als mittlere Überlebenszeit (RMST) gemessene Sterblichkeit war bei VKA signifikant besser, während sich die Therapien beim Sicherheitsendpunkt nicht signifikant unterschieden. „Die Ergebnisse sprechen dafür, dass VKA der Standard für Patienten mit rheumatischer Herzerkrankung und Vorhofflimmern bleiben sollten“, sagt Studienleiter Prof. Ganesan Karthikeyan vom All India Institute of Medical Sciences in Neu-Dehli kurz und knapp.
Schleifendiuretika sind bei akuter Herzinsuffizienz gut wirksam, aber bei einem Teil der Patienten schaffen sie keine volle Rekompensation. Diuretika-Kombis oder sequenzielle Diuretikagaben können helfen, insgesamt sind Kombinationsstrategien bei der akuten Herzinsuffizienz mit Volumenüberladung aber bisher nicht gut in Studien untersucht. Die randomisierte, doppelblinde, investigatorinitiierte ADVOR-Studie hat jetzt eine eigentlich naheliegende Kombinationstherapie bei akuter Herzinsuffizienz untersucht: hoch dosierte i. v. Schleifendiuretika plus Acetazolamid i. v., appliziert als 500 mg Bolus einmal am Tag für drei Tage bzw. bis zur Rekompensation. Diese war der primäre Endpunkt, definiert als keine klinischen Zeichen der Dekompensation mehr mit Ausnahme dezenter Ödeme.
Acetazomalid ist ein Carboanhydrase-Hemmer, der Hochgebirgs-Fans als orales Präparat unter dem Namen Diamox® bekannt ist. Es hat in dieser Applikationsform präventive Effekte auf das Entstehen von Höhenkrankheit. Das Therapieprinzip ist diuretisch: Die Carboanhydrase-Hemmung führt zu einer Verringerung der Natriumrückresorption im proximalen Tubulus.
Was kam raus? Prof. Wilfried Mullens, Hospital Ooost-Limburg in Genk, Belgien, stellte die Ergebnisse in Barcelona vor. 78,8 % der kombiniert behandelten Patienten waren innerhalb von drei Tagen voll rekompensiert, gegenüber 62,5 % bei Behandlung mit i.v Schleifendiuretika plus Placebo. Das war statistisch hoch signifikant (RR 1,27; 95 % CI 1,13–1,43; p = 0,0001). Sekundär konnte auch eine kürzere Liegezeit im Krankenhaus demonstriert werden. Die Sterblichkeit innerhalb von drei Monaten unterschied sich nicht.
Attraktiv an der getesteten Therapiestrategie sei, dass Acetazolamid leicht anzuwenden, nebenwirkungsarm und billig ist, sagte Mullens. Er erwarte daher, dass die ADVOR-Studie zu einem Paradigmenwechsel in der Rekompensation bei akuter, dekompensierter Herzinsuffizienz führen werde, so der Belgier selbstbewusst.
Auf dieses Sprachbild hatten es die Studienautoren definitiv abgesehen: Dass SGLT2-Hemmer bei der Herzinsuffizienz mit erhalten Pumpfunktion (HFpEF) „geliefert“ hätten, dieser Metapher konnte nach Präsentation der Ergebnisse der DELIVER-Studie kaum ein Session-Chair und kaum ein Journalist widerstehen. Die DELIVER-Studie hatte den SGLT2-Hemmer Dapagliflozin bei HFpEF (LVEF > 40 %) verglichen mit Placebo, und zwar bei über 6.000 Patienten. Nach im Median 2,3 Jahren waren 16,4 % der Patienten in der Dapagliflozin-Studie entweder kardiovaskulär verstorben oder hatten ein Herzinsuffizienz-bezogenes Ereignis erlitten, im Vergleich zu 19,5 % in der Placebo-Gruppe.
Den größten Anteil an diesem Vorteil für Dapagliflozin hatten die Klinikeinweisungen wegen Herzinsuffizienz. Bei der kardiovaskulären Mortalität gab es eine nicht signifikante Risikoreduktion um 12 %. Die Vorteile von Dapagliflozin seien konsistent über sämtliche präspezifizierten Subgruppen hinweg nachweisbar gewesen, betonte Prof. Scott Solomon vom Harvard University Brigham and Women’s Hospital. Dies habe insbesondere für sämtliche LVEF-Kategorien gegolten. In Verbindung mit der DAPA-HF-Studie lasse sich jetzt sagen, dass Dapagliflozin bei allen Herzinsuffizienz-Patienten, gleich welcher EF, einen Benefit bringe.
Die DELIVER-bestätigt in weiten Teilen die Ergebnisse der EMPEROR-preserved Studie, die analoge HFpEF-Daten bereits für Empagliflozin „geliefert“ hatte. Solomon und wahrscheinlich die große Mehrheit der über 20.000 weitere Kardiologen, die in Barcelona anwesend waren, erwarten jetzt, dass sich diese breite SGLT2-Hemmer-Indikation bald auch in den Leitlinien widerspiegelt. Die SGLT2-Hemmer sind die erste Substanzklasse überhaupt mit starker Datenbasis bei der HFpEF. Eventuell folgen demnächst die Mineralokortikoid-Rezeptor-Antagonisten.
Eine interventionelle Fragestellung beantworten wollte die REVIVED-BCS2-Studie, die untersucht hat, ob perkutane Interventionen (PCI) bei ischämischer Kardiomyopathie mit schwer eingeschränkter linksventrikulärer Funktion (LVEF 35 % oder weniger) einen Nutzen bringen. Verglichen wurde mit optimaler medikamentöser Therapie nach aktuellem Leitlinienstandard. 700 Patienten nahmen teil, und der primäre Kompositendpunkt bestand aus Gesamtmortalität und Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz. Hier gab es keine Unterschiede: 37,2 % der Patienten in der PCI-Gruppe und 38 % der Patienten in der Gruppe mit „nur“ optimaler Medikation erlitten über im Median 3,4 Jahre ein Endpunktereignis. Sekundär wurde die LVEF nach 6 und 12 Monaten gemessen, auch hier gab es keinerlei Unterschiede.
Die REVIVED-BCS2-Studie steht in der Tradition von Studien wie COURAGE und ISCHEMIA, und sie wurde wenig überraschend sofort intensiv diskutiert. Studienleiter Prof. Divaka Perera vom King’s College in London betonte, dass die Studie klar zeige, dass eine PCI bei Patienten mit ischämischer Herzerkrankung, stark eingeschränkter EF und relevanten Stenosen keinen Nutzen bringe, wenn das Ziel darin besteht, einen prognostischen Benefit zu erreichen. Anders sieht es naturgemäß aus, wenn sich zum Beispiel auf dem Boden einer bekannten ischämischen Herzerkrankung die Symptome verschlechtern und wenn das dann zum Beispiel mit einer zunehmenden Stenose korreliert. Wiederholt betont wurde in Barcelona auch, dass Patienten mit akutem Koronarsyndrom natürlich von der Studienteilnahme ausgeschlossen waren. Auch hier ist und bleibt die PCI die leitliniengemäße Therapie. So gesehen hat die REVIVED-BCS2-Studie nur einmal mehr gezeigt, dass die PCI bei stabiler KHK keinen prognostischen Benefit bietet. Das allerdings war auch vorher schon bekannt.
Aus den Katakomben der Berliner Friedrichstraße meldete sich in Sachen Europäischer Kardiologenkongress schließlich auch noch der medizinische Universalexperte Karl Lauterbach zu Wort.
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Anlass war die DANCANVAS Studie, die von Prof. Axel Diederichsen von der Odense Universität in Dänemark vorgestellt wurde. Auch diese Studie wurde im New England Journal zeitgleich publiziert. Lauterbach schreibt bekanntlich gerne bei seinem US-Counterpart Eric Topol ab, so auch diesmal.
Beide Public Medical Intellectuals scheinen im Wesentlichen den Abstract von DANCANVAS gelesen zu haben, denn ganz so simpel ist die Sache wieder einmal nicht. Zunächst einmal handelt es sich bei der „wichtigen epidemiologischen Studie“ in Wahrheit um eine interventionelle, kardiovaskuläre Screening-Studie mit komplexer Intervention und pragmatischem Design. Mit „Epidemiologie“ hat das erstmal nichts zu tun.
15 Regionen in Dänemark nahmen teil und randomisierten sämtliche dort lebenden Männer im Alter von 65 bis 74 Jahren zu einer Screening-Intervention (n = 16.736) oder zu keinem Screening (n = 29.790). Das Screening bestand konkret aus einer CT ohne Kontrastmittel zur Ermittlung des Calcium-Scores sowie zur Detektion von Aortenaneurysmen. Gesucht wurde außerdem nach Vorhofflimmern, der Blutdruck an Arm und Knöchel wurde gemessen, außerdem Cholesterin und HbA1c.
Der Follow-up-Zeitraum betrug im Median 5,6 Jahre, und der primäre Endpunkt war Gesamtmortalität. Diese betrug 12,6 % in der Interventionsgruppe und 13,1 % in der Kontrollgruppe. Das war knapp nicht signifikant (HR 0,95; 95% CI 0,90–1,00; p = 0,062). Rechnet man dennoch eine Number-needed-to-Screen aus, dann liegt diese bei 155, was für eine Screening-Studie tatsächlich relativ gut ist. Außerdem zeigten sich im Ergebnis Unterschiede, wenn nach Alter stratifiziert wurde: Die 65- bis 69-jährigen hatten eine Risikoreduktion um 11 %, was deutlich signifikant war (HR 0,89; 95 % CI 0,83–0,96; p = 0,004). Es braucht also nicht Lauterbachs „Vermutung aufgrund früherer Studien“. Dass das Screening bei jüngeren Alten besser funktioniert als bei alten Alten, zeigt DANCANVAS unmittelbar.
Post-hoc wurde außerdem ein Kompositendpunkt aus Tod, Schlaganfall und Myokardinfarkt ermittelt. Hier betrug die Risikoreduktion in der Gesamtpopulation 7 %, was ebenfalls signifikant war, bei den „jungen“ Alten waren es signifikante 11 %. Nun rettet Screening per se kein Leben, es stellt sich also die Frage, was jenen Unterschied ausmachte, den der Bundesgesundheitsminister nicht gesehen haben will. Unter anderem dürfte es die antithrombotische Medikation gewesen sein: 22,9 % versus 8,3 % der Studienteilnehmer wurden im Studienverlauf antithrombotische Medikamente verschrieben, bei den Cholesterinsenkern waren es 20,7 % vs. 9,0 %. Das sind schon ordentliche Unterschiede, und das war auch beides statistisch hoch signifikant. Keine Unterschiede gab es dagegen bei Antikoagulanzien, Antihypertensiva und Antidiabetika. Erwartungsgemäß waren auch elektive Eingriffe an Aortenaneurysmen in der Screening-Gruppe signifikant häufiger. Sie wurden bei 1,5 % bzw. 1,2 % der Teilnehmer durchgeführt.
Bildquelle: Djordje Vukojicic, unsplash