Jeder Fünfte erkrankt im Laufe seines Lebens an einer Depression. Betroffene erhalten nicht immer die bestmögliche Behandlung, ihr Leiden chronifiziert. Für ausweglose Fälle hat die Forschung neue Strategien entwickelt. Prophylaktische Maßnahmen sollten jedoch an Bedeutung gewinnen.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) schlägt Alarm: Senioren leiden häufig unter einer Depression. Zahlen der Bertelsmann Stiftung zufolge kommt es zwischen 55 und 60 Jahren sowie jenseits der 80 zu einer deutlich höheren Inzidenz. Nur rund zehn Prozent aller älteren Patienten werden angemessen versorgt. Mit zunehmenden Lebensjahren erhalten sie immer häufiger Antidepressiva verordnet – ein Trend, der bei Frauen noch deutlicher ausgeprägt ist als bei Männern. Psychotherapien oder kombinierte Behandlungen gelten als Seltenheit. Zum Vergleich: In der Gruppe von 18 bis 50 kommen 33 Prozent in den Genuss optimaler Therapien. Forscher der Barmer GEK berichten im „Gesundheitsreport 2014“ von ähnlichen Trends. Jeder dritte Patient erhält nicht die idealen Maßnahmen gemäß S3-Leitlinie/nationaler Versorgungsleitlinie (NVL) Unipolare Depression. „Viel zu oft verläuft die Behandlung zu einseitig. So erhalten bei chronischen Erkrankungen nur etwa 12 Prozent der Patienten die empfohlene Kombinationstherapie aus Antidepressiva und Psychotherapie“, kritisiert Professor Martin Härter vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Gerade für schwer erkrankte Menschen seien Antidepressiva oder Psychotherapien allein unzureichend.
Zu den Folgen: Bei unzureichend therapierten depressiven Patienten verschlechtert sich auch die Prognose einer Herzinsuffizienz. Das geht aus Arbeiten von Julia Wallenborn, Würzburg, hervor. Zusammen mit Kollegen erfasste sie bei 864 Menschen mit Herzschwäche per Fragebogen Informationen zu möglichen Depressionen – zu diesem Zeitpunkt waren 29 Prozent erkrankt. Weitere 28 Prozent hatten in der Vergangenheit bereits Episoden des Leidens durchlebt. Nach 18 Monaten waren 68 depressive Patienten mit Herzinsuffizienz verstorben (26,9 Prozent), verglichen mit 13,6 Prozent ohne Komorbidität. Damit nicht genug: Laut Informationen der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) leiden zehn Prozent aller Diabetiker an Depressionen – das sind doppelt so viele wie bei der Allgemeinbevölkerung. Ihnen gelingt es schlechter, den Blutzucker zu kontrollieren oder ärztliche Empfehlungen umzusetzen. Sie profitieren von einer besseren Versorgung, falls Ärzte rechtzeitig intervenieren. Grund genug für die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), eine Revision der S3-Leitlinie und der Nationalen Versorgungsleitlinie „Unipolare Depression“ anzukündigen. Ziel ist, Modelle einer besseren Umsetzung zu prüfen. Darüber hinaus integrieren Neurologen und Psychiater Erkenntnisse aus der Forschung.
Ein aktuelles Thema: Bei therapierefraktären Depressionen setzen Ärzte nach wie vor auf die Elektrokrampftherapie. Möglicherweise gibt es pharmakologische Alternativen. Britische Ärzte um Rupert McShane haben das Anästhetikum Ketamin gründlich untersucht. Ketamin hat den Glutamat-NMDA-Rezeptorkomplex zum Ziel. Bei acht von 28 Patienten war schon die erste Infusion erfolgreich. Ansonsten stellte sich der Effekt nach weiteren Gaben ein. Patienten profitierten median 2,3 Monate, minimal 25 Tage und maximal acht Monate. McShane berichtet von bekannten Nebenwirkungen, etwa Angstzuständen oder Ohnmachtsanfällen. Kognitive Defekte traten nicht auf. Jetzt führen die Psychiater mit einzelnen Patienten eine intermittierende Infusionstherapie durch. Forschende Arzneimittelhersteller sind auch dabei. Derzeit untersuchen sowohl Cerecor als auch Naurex, zwei US-amerikanische Konzerne, Effekte von Ketamin-Derivaten.
Ketamin ist aufgrund bekannter Nebenwirkungen nicht unumstritten. Doch gibt es harmlosere Alternativen. Distickstoffmonoxid, bekannt als Lachgas, inhibiert ebenfalls NMDA-Rezeptoren. Grund genug für Peter Nagele, St. Louis, eine Pilotstudie zu initiieren. Er rekrutierte 20 Patienten mit therapierefraktärer Depression. Sie erhielten innerhalb mehrerer Wochen einmalig 60 Minuten lang MEOPA, sprich ein äquimolares Gemisch aus Lachgas und Sauerstoff, oder reine Luft. Dabei kam es bei vier Personen zur deutlichen Verringerung der Symptome und bei drei Studienteilnehmern sogar zur Remission. Alle Effekte blieben etwa sieben Tage lang bestehen. Jetzt plant Nagele weitere Untersuchungen. Als Vorteile sieht er im Unterschied zu Ketamin die leichte Applikation via Gesichtsmaske mit Ballon und Einwegventil. Bleibt als Risiko, dass Lachgas im Körper Vitamin B12 oxidiert. Daran sollte bei der Dauertherapie gedacht werden.
Neben Pharmakotherapien kommt präventiven Ansätzen eine große Bedeutung zu. Snehal M. Pinto Pereira, London, veröffentlichte jetzt Resultate einer prospektiven Beobachtungsstudie. Mithilfe der National Child Development Study gelang es Forschern, gesundheitsrelevante Informationen von rund 17.000 Briten über lange Zeiträume zu erfassen. Wer einmal pro Woche körperlich aktiv war, senkte sein Depressionsrisiko um sechs Prozent. Bei drei Trainings pro Woche waren es sogar 16 Prozent. Ob tatsächlich ein kausaler Zusammenhang besteht, bleibt zwar ungeklärt. Mehr Bewegung schadet aber bekanntlich niemandem.