Weltweit wächst das Patienteninteresse für alternative und ergänzende Verfahren zur sogenannten Schulmedizin. Insbesondere im onkologischen Sektor erfreuen sich alternative Methoden großer Beliebtheit. Allerdings birgt das Begehren auch beträchtliche Risiken.
Nach der oralen Verabreichung eines Amygdalin-Präparats endete der alternative Ansatz bei einem vierjährigen Jungen jäh mit einer Blausäure-Vergiftung. Die Gabe des Antidots Natriumthiosulfat führte rasch zu einer Besserung, sodass der Junge nach zweitägiger stationärer Behandlung wieder entlassen werden konnte. Nach mehrfachen Rezidiven eines anaplastischen Ependymoms (WHO Grad III) war das erkrankte Kind in der palliativen Situation mit Amygdalin behandelt worden. Amygdalin ist ein toxischer Inhaltsstoff zahlreicher Kerne von Steinfrüchten und wird unter dem irreführenden Namen „Vitamin B17“ angeboten – es handelt sich bei Amygdalin nämlich keineswegs um eine lebenswichtige Substanz. Unter enzymatischer Spaltung durch Bakterien im GI-Trakt wird lebensgefährlicher Cyanwasserstoff freigesetzt. Anlässlich dieses Vorfalls wies die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) kürzlich auf die Gefahr einer Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandlung hin. Nach der Auffassung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) müsse die Wirksamkeit von Amygdalin in der Krebstherapie als widerlegt gelten, da keine Untersuchung nach den Qualitätsstandards der evidenzbasierten Medizin einen Nutzen nachweisen konnte. In Anbetracht der erheblichen Toxizität stuft das BfArM Amygdalin stattdessen als bedenkliches Arzneimittel ein und erklärt die Abgabe unabhängig von einer ärztlichen Verordnung für unzulässig.
Die Begrifflichkeiten zur Komplementär- und Alternativmedizin sind weiterhin uneinheitlich definiert – im englischsprachigen Raum haben sie immerhin die Abkürzung CAM (Complementary and Alternative Medicine) für sich beanspruchen können. Ihre Inhalte erfreuen sich jedoch trotz spärlicher Studienlage wachsender Beliebtheit. Disziplinen wie die sogenannte Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Ayurveda oder die Homöopathie stellen längst keine Randerscheinung mehr dar, sondern sind in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten. In Europa befasst sich längst jeder zweite Bürger mit alternativmedizinischen Angeboten. Nach Angaben des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI) sind die Deutschen bei der Inanspruchnahme sogar der europäische Spitzenreiter. „Die Bürger sind der Motor für CAM. Ihre Bedürfnisse und Meinungen sind die Schlüsselpriorität“, hob Wolfgang Weidenhammer hervor, Projektkoordinator des EU-Projekts „Roadmap for European CAM research“ (CAMbrella). Die zunehmende Popularität alternativer und komplementärer Methoden beschäftigt Fachgesellschaften und ärztliche Gremien weltweit. In einer unlängst auf der Jahrestagung der Clinical Oncology Society of Australia (COSA) präsentierten Erhebung des Peter MacCallum Cancer Centre in Melbourne warnen die Wissenschaftler vor dem unkritischen Gebrauch komplementärmedizinischer Mittel in der Krebstherapie. Die Projektleiterin und Pharmazeutin Sally Brooks erläuterte, dass diese Produkte mit konventionellen Medikamenten interferieren würden. Auf diese Weise könne beispielsweise eine Chemotherapie in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt oder in ihrer Toxizität gesteigert werden.
Das Risiko alternativmedizinischer Maßnahmen bestehe jedoch vor allem in der unzureichenden Kommunikation und Kooperation der verschiedenen Akteure. Bedauerlicherweise sprächen Patienten zu selten mit ihren Ärzten darüber und die behandelnden Ärzte fragten häufig nicht, sagt Dr. Ken Harvey von der Monash University in Melbourne. Laut einer Erhebung der Berliner Charité sind sich 57,9 % der Anwender komplementärmedizinischer Mittel nicht der Wechselwirkungen mit konventionellen Medikamenten bewusst: „Unsere Ergebnisse zeigen einmal mehr, wie dringend der Schulterschluss zwischen konventioneller und komplementärer Medizin erfolgen muss“, mahnt Michael Teut von der Charité. Zu diesem Zweck hat eine Arbeitsgruppe der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) das Programm „Komplementärmedizin für Krebspatienten“ ins Leben gerufen, an dem sich auch die Techniker Krankenkasse (TK) beteiligt. „Heilversprechen, die wahre Wunder in Aussicht stellen, gibt es in der begleitenden Krebstherapie viele. Leider kann man nur den wenigsten davon tatsächlich Glauben schenken“, bedauert die Onkologin Jutta Hübner von der Arbeitsgruppe der DKG. Das neu geschaffene Angebot beinhaltet umfassende Informationen für Patienten und Ärzte gleichermaßen und ist bemüht, das Dickicht alternativmedizinischer Verheißungen in der Krebstherapie zu lichten. Im Zentrum stehen dabei detaillierte Informationen zu zahlreichen Vitaminen, Mineralstoffen, Enzymen und Heilpflanzen. Darüber hinaus bietet das Programm ausführliche Hinweise zur Anwendung naturheilkundlicher Maßnahmen bei den häufigsten Beschwerden im Rahmen der Krebstherapie: „Wir wollen den Betroffenen das Rüstzeug für ihre persönliche Entscheidung an die Hand geben. Sie sollen selbst fundiert entscheiden können, auf welche komplementärmedizinischen Maßnahmen sie setzen möchten – und worauf sie tatsächlich besser verzichten“, resümiert Jutta Hübner.
Obwohl es bisher nur wenige wissenschaftlich valide Studien in diesem Bereich gibt, sind sich diese doch zumindest in einem Punkt einig: Alternative Therapien sollten in der Onkologie nicht anstelle konventioneller Behandlungen angewendet werden. In einer Untersuchung mit an Brustkrebs erkrankten Frauen ließ sich im Vergleich zur Standardtherapie unter alternativmedizinischer Behandlung ein signifikanter Anstieg des Rezidiv-Risikos sowie der Mortalität beobachten. Eine klinisch signifikante Beeinträchtigung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität ergab sich in einer prospektiven Studie von Yun et al. an terminal erkrankten Krebspatienten, die der Alternativmedizin den Vorzug vor der konventionellen Behandlung gaben. Der massenhafte Gebrauch komplementärer und alternativer Medizin stehe daher in keinem Verhältnis zur äußerst limitierten Evidenz der Wirksamkeit, beklagt Brooks. Allerdings zeichnete sich in manchen Studien zumindest in Ergänzung zur konventionellen Behandlung ein Nutzen der Alternativmedizin ab. In einer aktuellen Studie verglichen Yang et al. die Kombination aus dem Tyrosinkinase-Inhibitor Gefitinib und chinesischer Pflanzenheilkunde mit Gefitinib bei Patienten mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom. Dabei ließ sich eine signifikante Verlängerung des progressionsfreien und des medianen Überlebens feststellen. Darüber hinaus geben andere Studien Hinweise auf einen Nutzen der Alternativmedizin bei der Behandlung von Tumorschmerzen und Nebenwirkungen wie Schlafstörungen und Müdigkeit oder Flushing. Schwachpunkte vieler Studien sind die zu geringen Gruppengrößen und Beobachtungszeiträume. Die wissenschaftliche Gemeinde fordert daher mehr randomisierte, kontrollierte Studien in diesem Bereich.
Vor dem Hintergrund des augenscheinlichen Stellenwerts komplementär- und alternativmedizinischer Leistungen und der unzureichenden Datenlage sieht sich die Forschung in diesem Bereich immer mehr in der Verantwortung: „Es ist wichtig, gerade in diesem Therapiebereich die Forschungsanstrengungen zu intensivieren“, fordert Norbert Gerbsch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BPI. Dass die Forschung in diesem Bereich stark vernachlässigt wurde, hänge maßgeblich damit zusammen, dass sie an den Hochschulen kaum verankert sei. „Wir brauchen daher auch in Deutschland […] eine Forschungsförderung, die dem Stellenwert der Alternativmedizin gerecht wird“, fordert Gerbsch.