Die Serotoninhypothese war eine verlockend simple Erklärung für die Wirkung von Antidepressiva. Doch von Anfang an wurde sie als allumfassend fehlinterpretiert.
Es war eine einfache Theorie: Menschen mit Depression haben weniger vom Botenstoff Serotonin. Also blockieren wir die Transporter, die den Stoff in die Zellen aufnehmen und schon sollte mehr davon im Spalt zwischen den Nervenzellen vorhanden sein und die Symptome sollten sich verbessern. Der Gedanke basiert auf einer Veröffentlichung zweier Wissenschaftler aus dem Jahr 1969. Sie hatten beobachtet, dass im Gehirn von depressiven Patienten ein Abbauprodukt von Serotonin weniger vorkam als bei gesunden Probanden.
„Die Hypothese war zugleich ein Versuch, die Wirkung von Antidepressiva zu erklären und die Erkrankung zu entstigmatisieren“, erklärt Prof. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin. Eine körperliche Ursache für die Symptome zu benennen, sollte die Menschen wegbringen von der „Sollen die sich doch einfach zusammenreißen“-Mentalität.
Dass es nicht so einfach ist, wurde jedoch schnell klar. Tatsächlich hatten die Forscher nie behauptet, dass Depression ausschließlich durch einen Serotoninmangel verursacht wird. Vielmehr schlugen sie vor, dass die stimmungsaufhellenden Effekte von Antidepressiva auf die Erhöhung eines zuvor gesenkten Serotoninspiegels zurückgehen. Die Forscher wiesen aber gleichzeitig auf weitere neurologische Mechanismen hin, die für andere Aspekte zuständig sein sollten.
Verschiedene Studien fanden seitdem teils gar keinen Zusammenhang zwischen der Serotoninkonzentration und der Depression, manchmal war sogar bei Depressiven mehr von dem Botenstoff zu finden, wie Studien zeigen. Dabei kam es auch darauf an, wo, wie und was genau gemessen wurde: das Serotonin selbst, ein Abbauprodukt oder die Serotonintransporter.
Trotz verschiedener Hinweise darauf, dass die Serotoninhypothese nicht DIE Antwort auf eine sehr komplexe Frage ist, hält sie sich etwa in Arztpraxen und Lehrbüchern bis heute hartnäckig. Um den Wissensstand genau zusammenzufassen, sahen sich Forscher nun Studien und Übersichtsstudien zur Serotoninhypothese an. Ihre Schlussfolgerung: Es gibt keine Belege für die Theorie. In einer eigenen Stellungnahme drückten sie es recht drastisch aus: „Depressionen werden wahrscheinlich nicht durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn verursacht“ heißt es in der Überschrift.
So plakativ würde Heinz es nicht ausdrücken. „Dass bei einer so vielfältigen Erkrankung nicht ein einzelner Botenstoff verantwortlich sein kann, wussten wir in der Forschung schon lange, das ist nichts neues.“ Denn häufig tritt Depression überhaupt erst im Zusammenhang mit traumatischen oder schwierigen Lebenssituationen auf – nach einem Jobverlust, dem Tod eines Nahestehenden, der Trennung vom Partner. Nur selten leiden Menschen unter Depression, ohne dass es zumindest einen erkennbaren Katalysator gab. Das heißt aber nicht, dass chemische Veränderungen im Gehirn keine Rolle spielen.
Eine wahrscheinlichere Erklärung für Depression sieht Heinz darin, dass aus unterschiedlichen Gründen mehrere Balancen im Gehirn unter Stress aus dem Gleichgewicht geraten. Serotonin mag bei manchen Betroffenen ein Teil dieser Gleichungen sein, etwa bei Suchterkrankungen mit Depression, aber wohl selten die ganze Wahrheit.
Und selbst die Idee, dass wir Transporter blockieren und dadurch ein Gleichgewicht wieder ins Lot rücken können, sei viel zu einfach gedacht, so Heinz: „Die Transporter sind nicht brav auf der Außenseite der Zellen aufgereiht und warten darauf, blockiert oder genutzt zu werden.“ Vielmehr seien diese Proteine in einem Fließgleichgewicht, werden in die Zelle aufgenommen, wenn sie gerade überflüssig sind, und wieder an die Oberfläche gebracht, wenn Serotonin in die Zelle gelangen soll. Und auch dieser Prozess ist von unserer Umwelt und unseren Erlebnissen abhängig.
Was bleibt also? Wir wissen weiterhin nicht, wie Depression genau entsteht und was wir dagegen tun können. Die Wissenschaft kann versuchen, einzelne Aspekte zu entschlüsseln, doch vermutlich wird es keine definitive Antwort geben, die für alle Betroffenen gleich ist. Vorerst helfen die Antidepressiva weiterhin einem Teil der Patienten und die Forschung geht weiter, um neue Behandlungen oder verbesserte Protokolle zu finden.
Auch körperliche Aspekte werden mittlerweile meist berücksichtigt, etwa, ob die Schilddrüse ordentlich funktioniert. Auch weitere Erkrankungen, wie Infektionen und Immunschwächen, können Depressionen auslösen, betont Heinz. Darauf werde bisher nicht ausreichend geachtet, zumal sich solche Krankheiten manchmal leicht behandeln lassen. „Wir benötigen noch ein ganzheitlicheres Verständnis unseres körperlichen Wohlbefindens, um auch gezieltere Behandlungen zu ermöglichen.“
Bildquelle: Nathan Dumlao, unsplash
Anm. d. Red.: Wir haben die ursprüngliche Headline geändert.