Ärzte tragen künftig das finanzielle Risiko für unzureichende Kühlung von Impfstoffen in ihren Praxen. Es drohen Verluste von zigtausend Euro – wie ein deutscher Kinderarzt nun feststellen musste.
Hintergrund für die berechtigte Sorge von Ärzten und Praxen ist das sogenannte Kühlschrankurteil des Bundessozialgerichts in Kassel. Darin hatten die hessischen Richter die Klage einer Magdeburger Kinderarztpraxis abgelehnt, die sich gegen die Regressansprüche der Krankenkasse in Höhe von 24.394 Euro wehrte.
Zu dieser Entscheidung kam es, nachdem ein defekter Spezialkühlschrank in der Praxis die Impfstoffe übers Wochenende aufgrund eines defekten Relais zu kühl gelagert hatte. Die Vakzine wurden dadurch unbrauchbar und mussten vernichtet werden. Die Kosten für den georderten Ersatzimpfstoff übernahmen die Kassen nicht.
Bleibt nun die Frage, wie die Juristen zu einem solchen Urteil kommen. In der Begründung heißt es, dass „[…] der Vertragsarzt das Risiko der Lagerung und der bestimmungsgemäßen Verwendung von Impfstoff [trage]. Denn er habe – anders als die Krankenkassen – bestimmenden Einfluss nicht nur auf Lagerung und Verwendung, sondern auch auf Art, Menge und Zeitpunkt des Bezugs von Impfstoff. Es sei daher nicht gerechtfertigt, den Krankenkassen ein dementsprechendes Risiko zuzuordnen“, so das Bundessozialgericht.
Zu deutsch: Künftig wird die technische Überwachung, die mit DIN-Norm 58345 ohnehin eine Reihe an Vorgaben (wie Betriebstemperatur, Umgebungstemperatur und Warnsignale) für den Arzt bereithält, vermutlich durch Auswahl, Wartung und Überwachung des Kühlschranks selbst erweitert.
Gerechtfertigt wird das damit, dass der Arzt „das Risiko eines Schadenseintritts […] als Betreiber seiner Praxis aber in weitem Umfang beeinflussen [kann].“ Durch ein waches Auge bei Kauf und Wartung ließen sich Schäden wie unbrauchbare Impfdosen vermeiden. Zudem könne der Arzt bestimmen, wie viele Impfungen er überhaupt vorhält. Dazu heißt es sehr salomonisch: „In welchem Umfang der Arzt Vorsorge trifft (auch durch den Abschluss von Versicherungen), unterliegt seiner freien unternehmerischen Entscheidung und kann weder von den Prüfgremien noch von den Krankenkassen kontrolliert werden.“
Unverständnis für eine solche Rechtsprechung kommt nicht nur von praktischer, sprich ärztlicher Seite auf. Zweifel haben auch Medizinjuristen wie Frank Sarangi, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Medizinrecht sowie Lehrbeauftragter für Medizinrecht und Digital Health. „Dieser Ansatz ist meines Erachtens aber nicht völlig plausibel, denn unzweifelhaft wird damit die Verantwortung für die ordnungsgemäße Beschaffung und Beibringung des Impfstoffs in die Praxis auf die Versicherten übertragen. […] Dass sie [= die Praxisinhaber, Anm. d. Red.] dennoch quasi verschuldensunabhängig, also auch dann, wenn sie alles getan haben, um einen Schaden zu minimieren oder zu verhindern, haften sollen, steht im Widerspruch zu § 48 BMVÄ und zu weiteren allgemeinen Rechtsgrundsätzen.“
Welche Auswirkungen das Urteil nach gegenwärtigem Stand hat, ist zudem nicht zu unterschätzen und sowohl für Ärzte als auch Patienten und vor allem vermutlich für das allgemeine Impfverhalten der Bevölkerung entscheidend. Die Kinderärzte warnen gar davor, dass sie „[…] den Patienteneltern künftig Verordnungen in die Hand drücken und sie bitten, den benötigten Impfstoff für ihr Kind in der Apotheke zu besorgen und dies unter Beachtung der lückenlosen Kühlkette.“
Für die ärztliche Seite würde es indes ebenso umständlich werden. Angefangen dabei, dass Ärzte nun auch im Fall von höherer Gewalt zahlungspflichtig würden. „Des BSG hat zwar in der Pressemitteilung ausdrücklich drauf hingewiesen, dass im Falle von höherer Gewalt eine Haftung ausgeschlossen sein könnte. Im konkreten Fall hat das Gericht aber eine solche verneint. Recht nachvollziehbar ist es für mich nicht, weil es im konkreten Fall um den Ausfall eines Kühlaggregates ging. Ich würde mir wünschen, dass das BSG einmal in den Entscheidungsgründen darlegt, welche Vorkehrungen ein Arzt gegen den technischen Ausfall eines Kühlaggregates treffen soll. Faktisch bürdet man dem Arzt eine verschuldensunabhängige Haftung auf“, ordnet Sarangi das Urteil ein.
Ein weiterer Punkt ist die Überlegung, dass „man in der Tat über die Absicherung eines Ausfalls über spezifische Versicherungsprodukte (etwa eine Regressversicherung) nachdenken müsste“, so Sarangi. Die Frage nach dem Vorgehen bei mehrtägigen Praxisschließungen gingen sogar noch weiter. Hier kann sich der Jurist jedoch nicht vorstellen, dass „das BSG auch für mehrtägige Praxisschließungen eine persönliche Kontrollpflicht etablieren will, wenn der Medikamentenkühlschrank die Vorgaben der DIN-Norm erfüllt und die werktäglichen Temperaturkontrollen automatisch dokumentiert.“
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