Immer mehr Zahnärzte verordnen Schienen gegen Knirschen. Ist das bloß ein Therapie-Trend oder wird Bruxismus häufiger? Und: Ist eine Schiene wirklich immer die beste Wahl – und wenn ja, welches Modell überhaupt?
Laut der Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik (GZFA) leiden in Deutschland etwa 20 Prozent der Menschen an einer behandlungsbedürftigen Craniomandibulären Dysfunktion (CMD). Frauen sind dabei etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Die am häufigsten betroffene Altersgruppe liegt laut Bundeszahnärztekammer zwischen 30 und 45 Jahren. Bei Kindern kommt die CMD seltener vor, die Erkrankungshäufigkeit steigt jedoch bis zur Pubertät an.
Die Genese einer CMD ist multifaktoriell. Als erstes sichtbares Symptom steht oft das Knirschen oder Pressen der Zähne im Schlaf. Neben Stress können Atmungsstörungen wie Schlafapnoe, gehäufter Genussmittelgebrauch, Kieferfehlstellungen und bestimmte Medikamente ursächlich dafür sein. Jeder Zweite leidet zumindest zeitweise stressbedingt unter Knirschen oder Pressen. Dauerhaft zum Problem wird es aber nur bei etwa 20 Prozent der Patienten – mit den möglichen krankhaften Folgen einer craniomandibulären Dysfunktion.
„CMD ist ein allgemeiner Überbegriff für eine Reihe von Symptomen, die aber nicht alle unbedingt auftreten müssen“, erklärt Zahnarzt Dimitrios Protogeros. Protogeros arbeitet in einer großen Kölner Zahnarztpraxis und ist auf das Krankheitsbild der CMD spezialisiert. Während des Studiums lerne man in der Regel nicht viel über die Funktionsdiagnostik, das Wissen müsse man sich im Nachhinein selbst aneignen, so der Zahnarzt. Momentan habe er etwa 10 – 15 Neupatienten pro Monat. „Tendenziell kommen immer mehr Patienten mit CMD zu mir. Ob das mit erhöhtem Stress oder einem steigenden Bewusstsein für das Krankheitsbild zusammenhängt, kann ich nicht sagen“, so Protogeros.
Bei der CMD kommt es, meist durch eine gestörte Okklusion, zu einer neuromuskulären Fehlsteuerung und infolge zu massiven Verspannungen der Kaumuskeln. Kiefergelenksschmerzen und/oder -geräusche, Kopf-, Gesichts- oder Nackenschmerzen seien die häufigsten Symptome, aber auch Beschwerden von Ohren oder Augen, ein unsicherer Aufbiss, Zungenbrennen oder eine gestörte oder eingeschränkte Mundöffnung kämen regelmäßig vor. Damit einher gehen Schmerzen und Krankheitssymptome, die sich auch in vom Kausystem entfernten Körperbereichen zeigen können.
„Kiefer-, Kopf- und Nackenschmerzen haben in den letzten Jahren rapidezugenommen“, erklärt auch die Physiotherapeutin und CMD-Expertin Stefanie Kapp auf einer Pressekonferenz. „Aber so komplex wie die Beschwerden sind, ist es auch mit den Ursachen. CMD hat nie nur eine Ursache. Die Beschwerden kommen immer durch eine Mischung aus körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren zustande.“
Es wird angenommen, dass Stress, der über das Kausystem entladen wird, ein gravierender Verstärkungsfaktor der muskulären Verspannungen ist. Aber was kann man tun? Die Lösung sehen CMD-Spezialisten in einer Kombination aus Stressreduktion, Physiotherapie und speziellen Aufbissschienen. Bei Letzteren muss jedoch unbedingt zwischen therapeutischen Funktionsschienen und den geläufigeren zahnärztlichen Schutzschienen gegen Bruxismus und Abrieb differenziert werden.
Ist die Diagnose CMD gestellt, werden Patienten zur Linderung – neben physiotherapeutischen Behandlungen – auch Knirsch- oder Aufbissschienen verschrieben. Aus der Statistik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) 2021 geht hervor, dass für den Bereich Kieferbruch/Kiefergelenkserkrankungen im Jahr 2020 je Mitglied rund 6,6 % mehr Geld ausgegeben wurde, als im Vorjahr. Die KZBV schreibt: „Der seit einiger Zeit zu verzeichnende Anstieg bei Fallzahlen und Abrechnungswerten könnte auf den gestiegenen Bedarf bei der Anwendung von Aufbissschienen zurückzuführen sein.“
Schienen scheinen also im Trend zu sein. Doch auch hier gibt es bedeutende Unterschiede – vom kassenfinanzierten Basismodell, bis zur aufwändig vermessenen Hightech-Schiene. Aber wo liegen die Unterschiede und welcher Patient profitiert wirklich von einer solchen Zahnschiene?
Zahnschienen werden, unter anderem, zur unsichtbaren Begradigung der Zähne, aber auch bei anderen Indikationen wie etwa Zähneknirschen eingesetzt. CMD-spezifische Funktionsschienen hingegen bringen die Kondylen in die therapeutisch gewünschte Position und sollen sie dort auch dauerhaft halten. „Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Funktionsschienen: Stabilisierungs-/Äquilibrierungsschienen und Positionierungsschienen. Dazu kommt eine Reihe anderer Schienen mit schützender Funktion zum Einsatz, wie z.B. für Sportler. Wichtig ist, dass das Schienenmaterial hart sein sollte. Weiches Material führt zu einer erhöhten Muskelaktivität und daher in der Regel zur Verschlechterung der Symptomatik“, erklärt Protogeros.
„Bruxismus ist schon eine Indikation für eine Schiene, eben zum Schutz der Zahnhartsubstanz. Aber nicht jeder Patient mit Bruxismus entwickelt eine CMD. Auch bei einem Patienten mit Schlafapnoe kann mit einer speziellen Schiene, die den Unterkiefer vorne hält, eine Besserung der Schlafqualität bewirkt werden. Patienten mit CMD-Symptomatik haben meistens einen Vorteil durch eine Schienentherapie“, sagt Protogeros.
Stefanie Kapp sieht das etwas anders: „Das mit der Schiene ist so eine Sache. Eine Ursache von vielen ist oftmals der Biss, aber eine Schiene muss nicht unbedingt Verbesserungen bringen. Die Schiene allein ist sicher keine Lösung, kann aber unterstützend wirken. Es sollten immer auch Faktoren wie Stress, muskuläre Verspannungen, ein gestörter Bewegungsablauf oder Fehlstellungen betrachtet werden.“ Sie befragt ihre Patienten immer zu all diesen Faktoren. Wie ist der Schlaf? Welche Mundgewohnheiten hat jemand? Gab es Operationen oder Verletzungen? Eine manuelle Untersuchung der gesamten Wirbelsäule erfolgt in ihrer Praxis immer, auch die Augen spielen laut der Physiotherapeutin eine große Rolle, ebenso wie der Gleichgewichtssinn.
Ab wann sollte man nun bei einem Patienten an eine CMD denken? Protogeros listet die gängigsten Hinweise aus Zahnarzt-Sicht auf: „Spuren des Knirschens oder Pressens an Zähnen sind schon Zeichen von Bruxismus und daher eine Indikation für eine Aufbissschiene. Zahnimpressionen entlang der Wangeninnenseite und/oder am Zungenrand stellen auch Anzeichen von Parafunktionen dar. Kaut der Patient vielleicht – teils auch unbewusst – häufiger auf Gegenständen wie z.B. Stiften, Haarspitzen oder Fingernägeln? Hier sollte man sensibilisieren, dass dies dem Kiefergelenk schaden kann. Auch Kiefergelenksschmerzen deuten auf eine Belastung des Kausystems hin, sind aber allein keine rechtfertigende Indikation für eine Schiene; im Falle einer versteiften Gelenkkapsel würde die Schiene hier eher die Schmerzen verstärken.“
Muskelschmerzen könnten sogar in die Zähne ausstrahlen und als Zahnschmerzen wahrgenommen werden, so der Zahnarzt. „Bei Fehlstellungen des Unterkiefers können auch Druckgefühle oder Schmerzen im Kiefergelenk, Knackgeräusche beim Öffnen oder Schließen des Mundes oder beim Kauen auftreten.“ All das seien Hinweise für das Vorliegen einer CMD. Die Diagnose kann dann mithilfe der Funktionsdiagnostik gestellt werden.
Diese wird jedoch, ebenso wie die speziell angefertigten Schienen, nicht von der Krankenkasse bezahlt – das geht schnell ins Geld. Aber wo liegen hier die Unterschiede? „Leider sind funktionsdiagnostische und -therapeutische Maßnahmen laut Gesetzgeber kein Teil der Regelversorgung“, erklärt Protogeros. „Schienen, die wir über die GKV abrechnen dürfen, sind nur einfache Schutzschienen oder Schienen, die im Rahmen eines Kieferbruchs benötigt werden. Alle anderen funktionellen Probleme, die mittels einer Aufbissschiene behandelt werden können, müssen leider privat abgerechnet werden.“
CMD-Patienten würden außerdem laut Protogeros sehr von einer besseren Zusammenarbeit zwischen Physiotherapeuten und Zahnärzten profitieren – denn auch er ist der Meinung: Die Physiotherapie spielt eine entscheidende Rolle in der Therapie des Krankheitsbildes. Der Zahnarzt verschreibt diese meistens zusätzlich. Die CMD gehöre außerdem seiner Meinung nach fest in die zahnärztliche Ausbildung verankert. „Die zahnmedizinischen Universitäten sollten den Studierenden beibringen, dass die Zahnmedizin nicht isoliert vom Rest des Körpers ausgeübt werden kann. Jede Füllung oder Krone kann bei einigen Patienten große funktionelle Auswirkungen haben.“
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