Weltweit sterben pro Jahr rund 70.000 Menschen an einer Opioid-Überdosierung. Auch hierzulande steigt die Zahl der Drogentoten an. In einem Drogennotfall könnte die Gabe des Opiatantagonisten Naloxon durch Laien Abhilfe schaffen – wäre da nicht die rechtliche Grauzone.
Laut dem amerikanischen Gesundheitsministerium ist die Zahl der Heroinkonsumenten in kurzer Zeit um 80 Prozent gestiegen. 373.000 waren es im Jahre 2007, etwa 669.000 im Jahre 2012. Mehr als verdoppelt hat sich zwischen 2000 und 2010 auch die Zahl jener, die an einer Überdosis Heroin gestorben sind: auf insgesamt 3.094.
Die aktuelle WHO-Empfehlung „Community management of opioid overdose“ rät dazu, dass nicht nur Ärzte und medizinisches Assistenzpersonal, sondern auch medizinische Laien das lebensrettende Antidot Naloxon einsetzen sollen. Die meisten Opioidüberdosierungen treten der WHO zufolge im privaten Umfeld auf. In den meisten Fällen sind Angehörige oder Freunde anwesend, die Erste Hilfe leisten könnten. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat im Sommer 2014 einen Naloxon-Autoinjektor (Evzio®) zugelassen und befürwortet die Gabe des Opiatantagonisten durch den Laien.
Die Hauptgefahr einer Opiatüberdosierung durch illegale Opiate, Substitutionsmittel und Opiatanalgetika ist die Atemdepression. Die meisten Vergiftungen mit Opiaten treten unbeabsichtigt durch Substanzen auf, die einen unerwartet hohen Reinheitsgrad haben. Dieser kann zwischen 5 und 75 Prozent schwanken. Eine weitere Vergiftungsquelle ist das Platzen von im Körper (geschluckt oder rektal eingeführt) versteckten Heroinpäckchen zum Schmuggeln. Konsumiert ein Abhängiger längere Zeit keine Opiate und wird dann rückfällig, ist für ihn die erste Injektion nach längerer Abstinenz risikoreich. Nicht selten kommt es in Folge nachgelassener Aktivität abbauender Enzyme zu einer Überdosierung. Heroin wird nach intravenöser Gabe rasch systemisch transportiert und reichert sich mit steigender Lipophilie in den Organen an. Es wird rasch zu 6-MAM (6-Monoacetylmorphin) deacetyliert und weiter zu Morphin metabolisiert. Die hauptsächliche Wirkung wird vom Morphin ausgelöst. Dennoch wirkt Heroin stärker als der eigentlich wirksamere Metabolit Morphin. Das ist dadurch erklärbar, dass Heroin die besseren pharmakokinetischen Eigenschaften besitzt und nach Umwandlung rascher zu Morphinspiegeln im Gehirn führt. Je rascher eine Droge im Gehirn anflutet, desto stärker wird der „Kick“, die Wirkung empfunden.
Von der Beeinflussung der Opiatrezeptoren ist besonders das Atemzentrum betroffen. Diese Giftwirkung ist bei allen Opiaten qualitativ gleich. Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Toxizität und eventueller Nebeneffekte. Bereits subtherapeutische Dosen (2-4 mg) können zu einer Veränderung der Sensibilität des Atemzentrums führen, die aus einer herabgesetzten Empfindlichkeit gegenüber der CO2-Spannung sowie der Wasserstoffionenkonzentration resultiert. Bei Dosen ab 50 mg kommt es zu einer extremen Erhöhung der CO2- und einer Verminderung der O2-Spannung. Der Patient verspürt dennoch kein Gefühl der Atemnot. Die Atemfrequenz kann bis auf 3-4 Atemzüge pro Minute abfallen; diese Reduzierung bewirkt eine Verminderung des Atemminutenvolumens. Bei einer Atemdepression ist die Funktion der Lunge nicht beeinträchtigt. Der Betroffene "vergisst" ab einer bestimmten Dosis einfach zu atmen. Anfangs führt die respiratorische Insuffizienz zu einer langsamen und oberflächlichen Atmung, die sich auch als Cheyne-Stokes-Atmung manifestieren kann. Der Atemstillstand tritt bei ausreichender Aufnahme nach 2 bis 4 Stunden ein. Durch den nicht mehr vorhandenen Hustenreflex infolge der antitussiven Wirkung kommt es zum Sekretstau und zu einer respiratorischen Globalinsuffizienz. Hinsichtlich der Letaldosis bestehen große Unterschiede, da die Toleranzentwicklung eine große Rolle spielt. Morphinabhängige vertragen wesentlich größere Mengen als solche, die vorher die Droge nicht chronisch konsumiert haben. Interessant ist, dass Schmerzpatienten eine wesentlich größere Dosis erhalten müssen, um eine atemdepressive Wirkung zu erfahren, als solche, die schmerzfrei sind. Der Beginn der Atemdepression ist eine langsame (zwischen 2- und 4-mal pro Minute) und oberflächliche Atmung. Die Folge ist eine Hypoxie und damit eine periphere Zyanose.
Naloxon verdrängt die Opiate kompetitiv als Antagonist von allen Opiatrezeptor-Subtypen und hebt alle zentralen und peripheren Effekte des Morphins auf: Die Atemdepression, Analgesie, Sedierung, Miosis und herabgesetzte Reflexe. Der präklinische Einsatz ist nicht unumstritten. Ein ansprechbarer Vergifteter braucht kein Antidot. Ein Bewusstloser wird nach der Gabe unter Umständen unkooperativ und entwickelt ein Entzugssymptom. Der Auto-Injektor des Herstellers Kaléo ermöglicht eine subkutane oder intramuskuläre Injektion ggf. durch den Stoff des Hosenbeins hindurch in den Oberschenkel. Die Applikation erzielt vergleichbare Plasmaspiegel wie eine Injektion mit einer Standardspritze. Die FDA betont bei der Zulassung, dass die abrupte Aufhebung der Opioid-Wirkung zu Übelkeit, Erbrechen, Schwitzen, Tachykardie, arterieller Hypertonie, Krampfanfällen und im Extremfall auch zum Herzstillstand führen kann. Naloxon hat zwar die größere Affinität zu den Opiatrezeptoren als Heroin und Morphin, aber eine erheblich kürzere Wirkdauer. Erleidet ein Patient nach einer Naloxongabe ein Entzugssyndrom, spritzt er sich nicht selten erneut sein Opiat. Nach etwa 30 Minuten ist der Rezeptor wieder frei und es kommt zu einer erneuten, nun noch stärkeren Überdosierung. Auch wenn der Patient nicht nachspritzt, besteht nach dem Wirkende von Naloxon erneut die Gefahr einer Atemdepression. Die Bedienungsanleitung instruiert deshalb die Ersthelfer, auf jeden Fall unverzüglich einen Notarzt zu alarmieren.
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler, steht der Notfallgabe durch medizinische Laien positiv gegenüber: „Der Anstieg der Drogentodesfälle in 2013 ist ein Zeichen dafür, dass man bei den Angeboten und Maßnahmen in der Drogen- und Suchthilfe in unserem Land nicht nachlassen darf und dass wir genauer prüfen müssen, was getan werden kann, um Drogentodesfälle zu reduzieren. Denn wir wissen, dass wir viele Todesfälle verhindern könnten, wenn rechtzeitige Hilfe zur Verfügung steht. Es handelt sich ja nicht um statistische „Fälle“, sondern um Menschenleben und jeder Tote hinterlässt trauernde und verzweifelte Freunde und Angehörige.“ In einem Schreiben an die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin schreibt sie: „Nach meiner Einschätzung handelt es sich bei der Verabreichung von Naloxon durch geschulte Laien in Drogennotfällen um eine weitere, zusätzliche Handlungsoption, die das Leben Drogenabhängiger retten kann.“
Die Bundesärztekammer hat in einer Stellungnahme bereits Anfang 2002 bestätigt, dass in standesrechtlicher Hinsicht keine Bedenken gegenüber einer Naloxonabgabe zum Zwecke der Laienhilfe im Drogennotfall bestehen, da aufgrund der Substanzeigenschaften und des Einsatzzweckes nicht zu befürchten ist, dass ein Arzt der missbräuchlichen Anwendung seiner Verschreibung (§ 34 Abs. 4, Muster-Berufsordnung) Vorschub leistet. Die Verwendung des Arzneimittels ist zusätzlich beim Einsatz im Notfall durch § 34 StGB („Rechtfertigender Notstand“) gedeckt. Der Arzt muss allerdings einer besonderen Aufklärungspflicht genüge tun, durch die er nicht dadurch entbunden wird, dass andere Institutionen Schulungs- und Informationsmaßnahmen durchführen. Die Bundesärztekammer legt großen Wert auf die Aufforderung an die Naloxon-Empfänger, zusätzlich den Rettungsdienst zu alarmieren. Hat der Arzt im Einzelfall den Eindruck, dass der Naloxon-Interessent keine Schulung bzw. Informationen anzunehmen bereit ist und/oder den Rettungsdienst nicht informieren würde, sollte kein Naloxon verordnet werden.
In einer Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit vom August 2008 wird der Einsatz von Naloxon durch Laien wie folgt bewertet: Im Hinblick auf die Anforderungen in § 2 Abs. 1 Nr. 3 der AMVV, geht die AMVV grundsätzlich davon aus, dass die Person, für die ein Arzneimittel verschrieben wird, mit der Person identisch ist, bei der das Arzneimittel zur Anwendung kommt. Aber auch das Bundesgesundheitsministerium berücksichtigt allgemeine Rechtfertigungsgründe, die eine Ausnahmemöglichkeit rechtlich nicht ausschließen. Naloxon kann somit im Rahmen eines Notfalles ausnahmsweise bei einer anderen Person, als der, für die es verschrieben wurde, zur Anwendung gebracht werden, wenn gesundheitliche Folgen bzw. Gefahren nicht anders als durch unverzügliche Verabreichung von Naloxon abgewendet werden können. Hingewiesen wird außerdem auf die bestehenden medizinischen und rechtlichen Risiken, die mit einer von medizinischen Laien im Notfall vorgenommenen parenteralen Applikation von Naloxon verbunden sind. Fazit der Stellungnahme des Bundesministeriums für Gesundheit: Die Naloxon-Verschreibung im Rahmen von Laienhilfe ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Die bestehende Rechtslage schließt jedoch die Verabreichung von Naloxon durch qualifizierte Laienhelfer nicht aus. Bei einer Naloxonverschreibung sollten folgende Bedingungen erfüllt sein:
Das erste Naloxon-Vergabeprogramm in den USA startete 1996. Im Jahr 2014 sind 188 lokale Programme etabliert. Im Zeitraum 1996 bis 2012 wurden 53.032 Naloxonvergaben dokumentiert. Es erfolgten 10.171 erfolgreiche Naloxoneinsätze bei Überdosierungen. Die Ärztin Kerstin Dettmer von der Berliner Drogenhilfeeinrichtung Fixpunkt e. V. ist die Mitinitiatorin eines Deutschen Naloxon-Projektes. Vom Dezember 1998 bis zum Dezember 2002 wurden über 1.000 professionelle Helfer und Angehörige geschult. Außerdem wurden über 500 Drogenkonsumenten fortgebildet, von denen die Hälfte dann auch Naloxon bekam. In 100 Notfällen kam das Antidot zum Einsatz. In zwei von drei Fällen wurde das Naloxon zu Hause eingesetzt. Die Ärztin kämpft dafür, dass das Antidot von den Kostenträgern getragen wird. Derzeit muss Naloxon von den potenziellen Laienhelfern selber gezahlt werden. Zwar kostet eine Ampulle nur etwa knapp 10 Euro, aber die Ampullen sind nicht einzeln erhältlich. Der Arzt müsste einzelne Ampullen aus dem Praxisbedarf herausgeben, was rechtlich schwierig ist.
Naloxon hat einen extrem hohen First-Pass-Effekt. Deshalb ist eine orale Gabe nicht möglich. Bei einem Patienten mit Atemstillstand ist dieser Applikationsweg ohnehin nicht nutzbar. Im Rettungsdienst wird das Antidot meist intravenös, aber auch intramuskulär, eingesetzt. Für den medizinischen Laien bietet sich die i.m.-Gabe an. Eine interessante Alternative ist die Zerstäubung der Lösung und die Resorption über die Nasenschleimhaut. Hier wird der First-Pass-Effekt umgangen. Eine Studie von Sabzghabaee et al. bewies, dass die nasale Gabe genauso effizient wie die intravenöse ist. Außerdem ist sie leichter erlernbar und für den Anwender sicherer und ohne Nadelstichrisiko durchführbar. Auf jedem Flughafen sind automatische Defibrillatoren (AED) zu finden. Geht der Trend jetzt zum automatischen Naloxon-Injektor (ANI)? Warum nicht? Natürlich polarisiert solch ein Projekt. Die Gegner werden postulieren, dass der Heroinkonsument sich in falsche Sicherheit wiegen wird und sein Konsummuster möglicherweise riskanter wird. Er hat ja ein Antidot im Haus. Der Anaphylaxiepatient wird aber auch nicht hemmungslos ein Erdnussbutterbrötchen essen, wenn er mit einem Anaphylaxie-Pen ausgestattet ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Diskussion über Naloxon für Angehörige und Freunde von Opiatabhängigen ethisch-sachlich geführt wird, medizinische Inhalte im Vordergrund stehen und sich die Gesetzgeber und Kostenträger liberal zeigen.