Weisheit wiegt schwerer als neuer Nachwuchs – das legt zumindest eine aktuelle Studie nah. Darin zeigen Forscher, dass ausgerechnet die Infektionskrankheit Gonorrhoe einen entscheidenden evolutionären Vorteil mit sich bringt.
Die Biologie der meisten Tierarten ist auf Fortpflanzung optimiert, oft auf Kosten der zukünftigen Gesundheit und einer längeren Lebensspanne. Tatsächlich ist der Mensch eine der wenigen bekannten Tierarten, die weit über die Menopause hinaus leben. Der Großmutter-Hypothese zufolge ist dies darauf zurückzuführen, dass ältere Frauen eine wichtige Stütze bei der Aufzucht menschlicher Säuglinge und Kinder sind, die mehr Fürsorge benötigen als die Jungen anderer Arten. Wissenschaftler versuchen nun, zu verstehen, welche Merkmale der menschlichen Biologie diese längerfristige Gesundheit möglich machen.
Bei einem früheren Vergleich der Genome von Menschen und Schimpansen stellten Forscher der University of California San Diego School of Medicine fest, dass der Mensch eine einzigartige Version des Gens für CD33 besitzt, einen Rezeptor, der in Immunzellen vorkommt. Der Standardrezeptor CD33 bindet an eine Zuckerart namens Sialinsäure, mit der alle menschlichen Zellen überzogen sind. Wenn die Immunzelle die Sialinsäure über CD33 wahrnimmt, erkennt sie die andere Zelle als Teil des Körpers und greift sie nicht an, wodurch eine Autoimmunreaktion verhindert wird.
Der CD33-Rezeptor wird auch in Immunzellen des Gehirns, den Mikroglia, exprimiert, wo er zur Kontrolle der Neuroinflammation beiträgt. Mikroglia spielen jedoch auch eine wichtige Rolle bei der Beseitigung geschädigter Gehirnzellen und der mit der Alzheimer-Krankheit verbundenen Amyloid-Plaques. Indem sie an die Sialinsäuren auf diesen Zellen und Plaques binden, unterdrücken reguläre CD33-Rezeptoren diese wichtige Funktion der Mikroglia und erhöhen das Risiko einer Demenzerkrankung.
An dieser Stelle kommt die neue Genvariante ins Spiel. Irgendwann im Laufe der Evolution hat der Mensch eine zusätzliche mutierte Form von CD33 übernommen, der die zuckerbindende Stelle fehlt. Der mutierte Rezeptor reagiert nicht mehr auf Sialinsäuren auf geschädigten Zellen und Plaques, so dass die Mikroglia diese abbauen kann. Tatsächlich wurde unabhängig davon festgestellt, dass höhere Konzentrationen dieser CD33-Variante vor der Alzheimer-Krankheit im Spätstadium schützen.
Das Bakterium Neisseria gonorrhoeae könnte die Evolution menschlicher Genvarianten vorangetrieben haben, die vor Demenz schützen.
Bei dem Versuch, herauszufinden, wann diese Genvariante zum ersten Mal auftrat, fanden Dr. Ajit Varki und seine Kollegen Anzeichen für eine starke positive Selektion, was darauf hindeutet, dass sich das Gen schneller als erwartet entwickelt hat. Sie entdeckten auch, dass diese spezielle Version von CD33 nicht in den Genomen von Neandertalern oder Denisovanern, unseren nächsten evolutionären Verwandten, vorhanden war. „Bei den meisten Genen, die sich bei Menschen und Schimpansen unterscheiden, haben Neandertaler in der Regel dieselbe Version wie die Menschen, was uns sehr überrascht hat“, so Varki. „Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Weisheit und die Pflege gesunder Großeltern ein wichtiger evolutionärer Vorteil gewesen sein könnte, den wir gegenüber anderen alten Homininenarten hatten.“
Die Studie liefere neue Beweise für die Großmutter-Hypothese. Die Evolutionstheorie besagt jedoch, dass der Fortpflanzungserfolg die Haupttriebkraft der genetischen Selektion ist und nicht die postreproduktive kognitive Gesundheit. Was also hat die Prävalenz dieser mutierten Form von CD33 beim Menschen vorangetrieben? Die Autoren vermuten, dass hochinfektiöse Krankheiten wie Gonorrhoe, die die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen können, die menschliche Evolution beeinflusst haben könnten. Gonorrhoe-Bakterien überziehen sich mit denselben Zuckern, an die CD33-Rezeptoren binden. Wie ein Wolf im Schafspelz sind die Bakterien in der Lage, menschliche Immunzellen auszutricksen, damit diese sie nicht als Eindringlinge von außen erkennen.
Die Forscher vermuten, dass die mutierte Version von CD33 ohne Zuckerbindungsstelle eine Anpassung des Menschen an diese molekulare Mimikry durch Gonorrhoe und andere Krankheitserreger ist. Tatsächlich bestätigten sie, dass eine der humanspezifischen Mutationen in der Lage war, die Interaktion zwischen den Bakterien und CD33 vollständig zu unterbinden, was es den Immunzellen ermöglichen würde, die Bakterien erneut anzugreifen. Insgesamt gehen die Autoren davon aus, dass der Mensch die mutierte Form von CD33 ursprünglich geerbt hat, um sich während der Fortpflanzungszeit vor Gonorrhoe zu schützen und dass diese Genvariante später vom Gehirn übernommen wurde, weil sie gegen Demenz hilft.
„Es ist möglich, dass CD33 eines von vielen Genen ist, die wegen ihrer Überlebensvorteile gegen infektiöse Krankheitserreger in jungen Jahren selektiert wurden, die dann aber in zweiter Linie wegen ihrer schützenden Wirkung gegen Demenz und andere altersbedingte Krankheiten selektiert wurden“, so Gagneux.
Dieser Artikel basiert auf einer Pressemitteilung der University of California. Die Studie haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Christian Bowen, unsplash