Bislang ist wenig über Prozesse der ALS im Frühstadium bekannt. Forscher identifizierten nun ein Protein, das frühzeitig pathologische Merkmale aufweist. Lässt sich die Krankheit so noch früher diagnostizieren?
In Deutschland leben etwa 6.000 bis 8.000 Menschen mit Amyothropher Lateralsklerose (ALS). Jedes Jahr werden etwa 2.000 neue Fälle der Krankheit, die innerhalb weniger Jahre tödlich verläuft, diagnostiziert. „ALS ist eine Motoneuronenkrankheit, das heißt, sie schädigt die Nervenzellen, die unsere Muskeln steuern“, erklärt Prof. Beate Winner. „In der ersten Phase werden die Muskeln schwächer, dann verkümmern sie und schließlich können die Patienten nicht mehr selbstständig schlucken oder atmen.“
Winner ist Professorin für Stammzellmodelle für seltene Nervenkrankheiten an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und Sprecherin des Zentrums für Seltene Krankheiten am Universitätsklinikum Erlangen. Ihr Labor erforscht die möglichen Auslöser neurodegenerativer Erkrankungen und hofft, dadurch neue Behandlungsmöglichkeiten zu entdecken. „Seit etwa 15 Jahren wissen wir, dass im Endstadium der ALS das in Nervenzellen vorkommende Protein TDP-43 unlöslich wird und zu verklumpen beginnt“, erklärt Winner. „Es verliert seine normalen Funktionen und nimmt toxische Eigenschaften an.“ Auch wenn diese pathologischen Veränderungen bei den Patienten noch nicht erkennbar sind, ist das Schicksal der Nervenzellen zu diesem Zeitpunkt bereits besiegelt. Winner weiter: „Wir wollten wissen, ob wir Ursachen für ALS in einem frühen Entwicklungsstadium finden können – bevor sich das TDP-43 verändert.“
Gemeinsam mit Prof. Jürgen Winkler und Dr. Martin Regensburger von der Abteilung für Molekulare Neurologie am Universitätsklinikum Erlangen machte sie sich auf die Suche. Die Forscher entnahmen dafür eine kleine Hautprobe aus dem Oberarm von ALS-Patienten und gesunden Menschen einer Kontrollgruppe und programmierten sie in so genannte induzierte pluripotente Stammzellen um. Dabei handelt es sich um Zellen, die einem sehr frühen Stadium der menschlichen Entwicklung entsprechen und sich theoretisch zu jeder Zelle im menschlichen Körper entwickeln können. Diese Stammzellen wurden dann in Nervenzellen umgewandelt. „Im Grunde haben wir die Uhr zurückgedreht und Neuronen erzeugt, die das Entwicklungsstadium eines Fötus imitieren“, erklärt Winner.
Mit Hilfe von Massenspektrometrie suchten die Erlanger Forscher in den Zellproben nach unlöslichen Proteinen – und waren erfolgreich. In den Nervenzellen von ALS-Patienten entdeckten sie ein RNA-bindendes Protein namens NOVA1. „In den Nervenzellen zeigte das Protein Veränderungen, darunter einen stark erhöhten Insolvenzgrad, aber noch nicht die typischen pathologischen Merkmale von TDP-43“, erklärt Dr. Florian Krach, Erstautor der Studie. „Die Zellen der Kontrollgruppe zeigten diese Veränderungen nicht.“
Mit diesen Erkenntnissen wechselte Krach in das Labor des RNA-Biologen und Bioinformatikers Prof. Gene Yeo an der University of California in San Diego (USA). Mit Hilfe spezieller Experimente und computergestützter Analysen konnte er dort untersuchen, woran genau NOVA1 in RNA-Molekülen bindet und welchen Einfluss es auf das alternative Splicing in menschlichen Nervenzellen hat. „Alternatives Splicing ist ein äußerst komplexer und ausgeklügelter Mechanismus, mit dem der Mensch sein Repertoire an Proteinen vervielfältigt“, erklärt Krach. „Dabei werden Abschnitte eines RNA-Botenmoleküls entweder abgeschnitten oder hinzugefügt, wodurch die Funktion von Proteinen behindert, erweitert oder ganz verändert wird.“
Es ist seit einiger Zeit bekannt, dass der Prozess des alternativen Splicings bei ALS-Patienten unreguliert ist. Es ist auch bekannt, dass TDP-43 diesen Prozess beeinflusst. Das Erlanger Forscherteam vermutete jedoch, dass andere RNA-bindende Proteine für die pathologischen Prozesse in frühen Stadien der Krankheit verantwortlich sind, schon bevor sich TDP-43 verändert. Mit der Entdeckung der gestörten Funktion von NOVA1 hat sich dieser Verdacht nun bestätigt.
„Wir haben eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, die aber nur ein erster Schritt ist, um ALS möglicherweise schon im Frühstadium erkennen zu können“, sagt Winner. „Folgestudien mit größeren Kohorten könnten unser Verständnis für die Bedeutung von RNA-bindenden Proteinen vertiefen.“ Die Forscher hoffen, dass ihre Arbeit dazu beiträgt, neue Therapiekonzepte zu entwickeln – die ansetzen, bevor die Neuronen unwiederruflich verloren sind.
Dieser Artikel beruht auf einer Pressemitteilung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die Originalpublikation haben wir euch hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Alexis Antoine, unsplash.