Heute möchte ich euch eine kleine Geschichte erzählen. Der Protagonist: Dr. Schwurbler, äh, Schwurbling. Er hat in seiner Apotheke eine bahnbrechende neue Therapie entwickelt. Wenn da nur nicht immer diese engstirnigen Zweifler wären.
Es ist ein schöner sonniger Tag. Die Vögel zwitschern, ein Mann steht in seiner Apotheke und wartet auf Kundschaft. Sein weißer Kittel lässt ihn durchaus seriös wirken. Der Mann ist Apotheker, aber dieser Mann bin nicht ich. Denn das ist nicht meine Geschichte, sondern seine.
Die Automatiktür, die seine kleine Welt von der Außenwelt abschottet, öffnet sich und herein spaziert kommt eine junge Frau; hinter ihr folgt ein junger Mann. Das einzige was sie verbindet, ist, dass sie beide eine FFP2-Maske tragen. Der Mann hinter dem HV-Tisch trägt jedoch keine. Nicht einmal die obligatorische Plexiglasscheibe ist in dieser Apotheke zu finden.
Unser Apotheker Dr. Schwurbling kennt die junge Frau, denn er hat schon ihrer Mutter mit Ratschlägen zur Seite gestanden. Den anderen Mann kennt er nicht.
„Frau Müller, schön Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen denn?”
„Ehrlich gesagt, nicht so gut. Ich renne gerade von einem Arzt zum anderen und keiner kann mir helfen.”
„Was fehlt Ihnen denn?”
„Wenn ich das nur wüsste! Ich hatte Ende Juni Corona. Jetzt bin ich ziemlich kurzatmig und muss viele Pausen einlegen. Die Ärzte haben es schon mit Salbutamol und Cortison probiert. Nichts hat so richtig geholfen.”
„Natürlich sind Sie kurzatmig, Sie haben ja auch diesen Lappen im Gesicht”, erwidert Dr. Schwurbling aufbrausend. „Aber passen Sie auf, ich habe da genau das Richtige für Sie.”
„Das hier sind verschiedenfarbige Traubenzucker-Bonbons.” Er hält ein großes Glas mit einer bunten Auswahl an Bonbons in die Luft. „Jede Farbe hat eine andere Wirkung.” Frau Müller ist skeptisch: „Aber das sind doch stinknormale Traubenzucker-Bonbons!”
„Junge Frau, als sie damals auf den Markt kamen, waren sie das tatsächlich. Aber ich, Dr. Schwurbling, fand hier in meiner kleinen Apotheke heraus, dass sie weit mehr als nur eine Süßigkeit sind. Die roten hier werden für Erkrankungen des Blutes eingesetzt. Die gelben bei Depressionen, denn sie bringen die Sonne ins Leben zurück. Sie bräuchten selbstverständlich für eine Lungenerkrankung die grünen. Die grüne Lunge, Sie verstehen!”
„Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass …”
„Hören Sie, vor zwanzig Jahren hatte ich einen schlimme Verstopfung und nachdem ich mehrere der braunen Traubenzucker-Bonbons aß, wurde meine Verdauung wieder angeregt! Seitdem empfehle ich das meinen Kunden und sie sind äußerst zufrieden. Nach und nach entdeckte ich auch die verborgenen Fähigkeiten der anderen Farben.”
Frau Müller ist nicht überzeugt, aber Dr. Schwurbling lässt nicht locker und bietet eine Alternative an. Er zieht einen einfachen Magneten aus der Kittel-Tasche. „Sehen Sie, eine Krankheit manifestiert sich im Körper durch verstimmte magnetische Felder. Die müssen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Entweder schafft der Körper das von alleine, oder Dr. Schwurblings Krankheitsmagnet erledigt das. Er zieht die Krankheit aus dem Körper und bringt die magnetischen Felder dadurch wieder ins Gleichgewicht.”
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich einmische”, meldet sich der Mann hinter Frau Müller nun zu Wort. „Aber was reden Sie denn da für einen Unsinn?”
Dr. Schwurbling: „Ich darf doch wohl sehr bitten! Ich bin promovierter Apotheker und habe diese Methoden seit vielen Jahren sorgfältig erforscht. Mit beiden Methoden habe ich gute Ergebnisse erzielt!”
Der Mann entgegnet: „Ich kenne mich auch ein wenig mit Medizin aus, ich bin Arzt! Das was da gewirkt hat, falls überhaupt, war höchstens der Placebo-Effekt!”
„Der Placebo-Effekt? Pah! Dass ich nicht lache. Damit will uns die Schulmedizin doch nur mundtot machen. Meine beiden Therapien heilen die Menschen, bei denen die konventionellen Methoden keine Erfolge erzielen konnten!”
„Aber Sie heilen gar nichts! Entweder wird die Krankheit von selbst besser oder es handelt sich um den Placebo-Effekt! Ganz bestimmt liegt das nicht am Traubenzucker und schon gar nicht am Magneten!”
Dr. Schwurbling ist entrüstet: „Wie engstirnig manche Leute sein können! Und selbst wenn es nur der Placeboeffekt wäre, heile ich immerhin ohne anderweitigen Schaden anzurichten! Wer heilt hat Recht!”
„Was ist mit den Menschen, die sich nicht richtig behandeln lassen, weil sie lieber auf Hokuspokus setzen? Oder was ist mit den Kindern, die unnötig leiden müssen, weil ihre Eltern eine Mittelohrentzündung lieber mit Homöopathie heilen wollen, als mit richtiger Medizin? Das ist unverantwortlich!”
„Meine Methoden funktionieren hundertprozentig! Zum Beispiel habe auch ich persönlich sehr gute Erfahrungen mit dem grünen Traubenzucker bei Erkältungen machen können! Hauptsache den Patienten geht es nach der Behandlung besser!”
„Eine Erkältung ist selbstlimitierend, aber Sie tun so, als wäre Ihr Traubenzucker dafür verantwortlich! Sie verkaufen Placebos und tun so, als wäre das wirksame Medizin. Das ist ethisch äußerst fragwürdig, um das mal vorsichtig auszudrücken!”
Frau Müller hat indes längst die Flucht ergriffen, aber die Diskussion geht weiter. Dr. Schwurbling: „Ich verbitte mir diesen Ton! Die Menschen sollten nicht immer alles unreflektiert als Betrug abtun, nur, weil sie es nicht verstehen! Nur, weil man die Mechanismen dahinter noch nicht versteht oder gar nachweisen kann, ist es noch lange keine Lüge! Die Natur kann heilen und Traubenzucker ist letztendlich Natur! Und angenommen meine Therapie hätte tatsächlich nur einen Placebo-Effekt: Wer den Placebo-Effekt nicht nutzt, hat seinen Beruf verfehlt!”
„Es spricht doch überhaupt nichts gegen den Placebo-Effekt. Der ist immerhin erwiesen. Nur, wenn Sie etwas verkaufen, das nur einen Placebo-Effekt hat, Sie aber behaupten, dass es besser als Placebo wirkt, dann ist das Betrug. Das ist noch nicht mal eine Diskussion wert!”
„Bitte verlassen Sie sofort meine Apotheke!”
Wer diese kleine Geschichte gelesen hat und meint, dass es weder eine Therapie mit Traubenzucker gibt, die aufgrund verschiedener Farben verschiedene Krankheiten heilen kann, noch einen Krankheitsmagneten, der Krankheiten einfach aus dem Körper ziehen kann, liegt goldrichtig. Aber mal im Ernst: Klingt es wirklich absurder zu behaupten, dass ein Krankheitsmagnet funktioniert, als zu behaupten, dass jeder Krankheit eine seelische Gleichgewichtsstörung zugrunde liegt, deren Ursache in einem Konflikt zwischen der unsterblichen Seele und der Persönlichkeit liegt, so wie es Edward Bach tat?
Findet es niemand absurd, dass Bach den disharmonischen Seelenzuständen der menschlichen Natur, die er selbst beschrieb, einfach irgendwelche Blüten zuordnete, nur indem er seine Hand darüber hielt und dann die auswählte, die angeblich den disharmonischen Seelenzustand, unter dem er gerade litt, verbesserte?
Ist eine Theorie, die behauptet, dass ihre Mittelchen besser wirkten, je verdünnter sie sind und am besten, wenn nichts mehr vom Ausgangsstoff enthalten ist, weniger absurd als die Traubenzucker-Therapie von Dr. Schwurbling?
Und was ist mit einer Theorie, wie die der anthroposophischen Medizin? Die möchte immerhin „das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen [...]” und behauptet, man sei krank, wenn eine Disharmonie der vier Wesensglieder, also des physischen Leibs, des Ätherleibs, des Astralleibs und des Ichs, vorliegen würde. Heilen soll man eine Krankheit dann, indem man die Wesensglieder zum Beispiel mit Arzneisubstanzen wieder in Einklang bringt. Bei den Anthroposophen wird die „Arzneisubstanz” aber nicht wie in der Homöopathie nur stufenweise verdünnt. Nein, die Anthroposophen möchten durch rhythmische, intensive Bewegungen die Kräfte aus der jeweiligen Substanz freisetzen und sie so in der Flüssigkeit auffangen.
Jede dieser Theorien ist absolut absurd. Jede dieser Theorien widerspricht den Naturgesetzen. Jeder Fachmann, jede Fachfrau sollte das – auch ohne Studien – erkennen können. Im Grunde sollte es sogar jeder – auch ohne Studium – erkennen können. Die Frage ist also: Warum gibt es Ärzte und Apotheker, die an diesen Theorien festhalten?
Wollen sie nicht erkennen, dass da nichts über den Placeboeffekt hinaus wirken kann, weil sie sonst finanzielle Einbußen hätten? Oder eher, weil sie sich nicht eingestehen wollen, dass sie ihr ganzes berufliches Leben auf falschen Tatsachen aufgebaut haben? Oder verstehen sie einfach nur nicht, was der Placebo-Effekt ist?
Natürlich waren die Theorien mit dem Traubenzucker und dem Magneten nur ausgedacht. Aber das Beste daran ist: Würde man sie tatsächlich anwenden, würde man damit die gleichen Erfolge erzielen, wie mit der Homöopathie, den Schüßler-Salzen, der anthroposophischen Medizin und den Bach-Blüten. Und solange das keiner über Jahre hinweg ausprobiert, um mich zu widerlegen, kann auch niemand etwas anderes behaupten. Ist das nicht toll?
Es ist eine Sache, mit dem Placeboeffekt einen Haufen Geld zu verdienen, aber eine andere, seinen Verstand auszuschalten und zu glauben, dass irgendeine dieser absurden Theorien auch nur ansatzweise mehr leisten kann, als der Placeboeffekt.
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