SCHWARZBUCH | Dienste, bei denen man sich nicht mehr daran erinnern kann, was man eigentlich getan hat. Das Gefühl, ständig hinterherzuhinken, nur den größten Schaden abzuwenden. Ein Pfleger schreibt über seine persönliche Horror-Schicht.
Um zu zeigen, dass die Versorgung in deutschen Krankenhäusern flächendeckend an ihre Grenzen gekommen ist, wurde das Projekt Schwarzbuch Krankenhaus ins Leben gerufen. Auf der Internetseite schreiben die Initiatoren: „Wir, Arbeitende im Gesundheitssystem, berichten von Überlastung und Patientengefährdung im Arbeitsalltag. Die folgenden Erfahrungsberichte zeigen, wie die Gesundheitsversorgung in Deutschland wirklich ist.“
Wir bilden in den nächsten Wochen einen Teil der Erzählungen in leicht gekürzter Form auf DocCheck ab. Zu den Originaltexten und allen weiteren Berichten kommt ihr hier.
Ein Krankenpfleger, der seit 2009 im Bereich Pulmologie arbeitet, wechselte vor 3 Jahren aus einer anderen Großstadt in ein Berliner Krankenhaus. Er schreibt: „Auch wenn es ein eher unbeliebtes Fachgebiet ist, liegt es mir und ich liebe es. Allerdings war ich so schockiert über die unterirdisch schlechte Versorgung in diesem Haus, dass ich es dort nicht länger als 2 Jahre ausgehalten habe.“
Er schreibt weiter: „Das Hauptsymptom in diesem Arbeitsbereich ist Luftnot. Diese ist fast ausnahmslos mit Panik verbunden, welche in wenigen Minuten zur Todesangst und rapiden körperlichen Verschlechterung führen kann. Mit meinen Erfahrungen konnte ich bis zu meinem Umzug nach Berlin auch solche Patienten gut versorgen – in diesem Klinikum nicht.“ Ein Team teile sich über 45 Betten, mehr als häufig komme es vor, dass sich Leasingkräfte kurzfristig krankmelden. Die Pflegebereichsleitung sei zu diesen Zeitpunkten meist nicht im Dienst.
„Was ich auf dieser Station betrieben habe, war Massenverwahrung“, so der Pfleger. „Panikpatienten wurden von mir so häufig in ihrer Angst alleine gelassen, dass ich es nicht mehr aufzählen kann. Egal wie sehr man sich jeden Tag angestrengt hat, ohne Pause, stets im Laufschritt – ich wurde nicht fertig. Die Rettungsstelle lieferte teilweise 4–5 multimorbide Patienten mit schon längst entleerten Sauerstoffflaschen auf der Trage, einige fanden ich und meine Kollegen auch schon mal tot in den Buchten auf den Fluren.“
In einem seiner Dienste, noch vor Corona, begrüßte ihn seine Stationsleitung mit dem Satz: „Dreh jetzt bitte nicht durch – die gebuchte Leasingkraft hat sich verfahren und ist nicht aufgetaucht und wir brauchen die zweite examinierte Pflegekraft für unsere andere Station.”
Er beschreibt: „Es folgte eine Schicht mit 30 Pflege- und Schwerpflegefällen: Demente Personen mit Hinlauftendenz, mehrere Isolationen mit Tuberkulose, mehrere kleinere Notfälle (z. B. akute Atemnot). Das mit einer Kollegin, die sich teils auf der Station nicht auskannte und zwei Assistenten, die zum ersten Mal im Haus waren und sich aus mangelndem Hygienewissen weigerten, in die Tuberkulose-Isolationszimmer zu gehen. Außerdem musste ich mich auch noch um die Kollegin kümmern, die sich scheinbar auf ihrem Arbeitsweg ‚verirrt‘ hatte – so telefonierte ich an diesem Tag zum ersten Mal mit der Polizei. Gegen Abend lief mir noch ein Patient mit Demenz weg und konnte zunächst nicht gefunden werden, weshalb ich ein weiteres Mal die Polizei verständigen mussten. Ich meldete mich bei dem zuständigen Pflegebereichsleiter, der mir einen Rückruf versprach, auf den ich heute noch warte.“
Der Pfleger resümiert: „An diesem Tag ließ ich Patienten mit ihren Schmerzen im Stich, wenn das erste Medikament nicht den gewünschten Effekt hatte.“ Er habe ängstliche, chronisch Erkrankte wegen des Zeitdrucks beinahe brutal behandeln müssen, um sie wenigstens einmal in der Schicht von ihren Exkrementen zu befreien. Er habe Luftnot ohne Betreuung mit Morphin behandeln müssen, „und ansonsten weiß ich von der Schicht nicht mehr wirklich viel. Irgendwie müssen wir dazwischen noch Essen verteilt und ich die Administration (Telefon, Aufnahmen etc.) bewerkstelligt haben.“
In der ganzen Schicht habe er nicht mehr als 2 Minuten gesessen, er war um kurz vor Mitternacht noch nicht mit der Abendrunde durch und hatte seit mehr als 15 Stunden nichts getrunken. Er meldete noch der Stationsärztin, dass er sich fühle, als sei er schon zusammen gebrochen. Seine Gedanke waren: „Alles was nicht versterben darf, muss über den Dienst kommen – der Rest geht heute unter“ und „Hoffentlich hauen mir die Assistenten nicht ab.“ Denn auch das sei schon vorgekommen.
Er beschreibt: „Als ich nach Hause ging, erinnere ich mich, mir ein gebrochenes Bein gewünscht zu haben, aber krank habe ich mich nicht gemeldet – denn ich bin physisch sehr selten angeschlagen.“ Und obwohl ihn sein Erschöpfungszustand ängstigte (die Dienste davor seien trotz etwas besserer Besetzung auch schon zum Davonlaufen gewesen), ging er am nächsten Tag wieder auf die Station. „Von diesem Dienst weiß ich bis heute NICHTS mehr. Ich weiß nicht mehr, welche Medikamente ich wem gegeben habe, mit wem ich gesprochen habe. Ich kam zu Hause an und hatte Tagträume, dass ich im Patientenzimmer stehe, mich der Arzt mit verzogenem Gesichtern anlächelt und ich mich frage, was ich hier eigentlich mache. In der Nacht wachte ich aus dem Schlaf auf und hatte einen Ruhepuls von über 120/min und Angst, zu sterben. Ich hatte Angst, in dem Zustand nochmal auf die Station zu gehen, weil ich für nichts mehr garantieren konnte. Das war meine erste Krankmeldung. Ich bin Anfang 30.“
Der Pfleger sorgt sich um seine Gesundheit: „Ich weiß, dass Dienste dieser Art keine Seltenheit oder gar Einzelfälle sind – aber ich kann dieses Gefühl und dem Druck nicht standhalten, ohne einen psychischen Schaden davon zu tragen, weil einen das Verantwortungsgefühl immer über die eigenen Bedürfnisse hinweggehen lässt.“ Das würde aber ohne Personalmangel nicht passieren. Der „Rückhalt“ aus dem Konzern sei eher Gegenwind – für ihn ein von Grund auf zerrüttetes Arbeitsverhältnis mit maximalem Misstrauen. Die Empathielosigkeit und fehlende Wertschätzung von der Chefetage ekele ihn zutiefst an – er sei in jedem Haus würdevoller behandelt worden, als von „diesen ignoranten und unfähigen Menschen, denen ich allen wünsche, dass sie in der nächsten Zeit mal Kontakt als Patient oder Angehöriger haben, um zu erleben, was sie eigentlich für eine Verantwortung haben“.
Wenn auch ihr von Missständen in eurer Klinik berichten wollt, könnt ihr euch hier an Schwarzbuch Krankenhaus wenden.
Bildquelle: Andy Li, unsplash