Vor etwa elf Jahren entschieden Gesundheitspolitiker, OTCs von der Erstattungspflicht auszuschließen. Mittlerweile zeigt sich immer deutlicher, dass diese Strategie ihre Schwächen hat – nicht nur aus ökonomischen Gründen. Es geht auch um die Arzneimitteltherapiesicherheit.
In den letzten Wochen wurden Apotheker Zeugen eines OTC-Switchs der besonderen Art: Nach Freigabe durch die EU-Kommission entlässt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) nicht nur Ulipristal-, sondern auch Levonorgestrel-haltige Notfallkontrazeptiva aus der Verschreibungspflicht. Gegner und Befürworter diskutierten das Thema mit viel Emotion. Kein Einzelfall: Immer häufiger wandern Präparate ohne Kassenrezept über den HV-Tisch, etwa manche Triptane oder Protonenpumpenhemmer. Damit will der Gesetzgeber primär Kosten im Gesundheitssystem senken. Ein paar Zahlen: Laut IMS Health gingen im Jahr 2013 rund 109 Millionen Packungen diverser OTC-Analgetika über Deutschlands HV-Tische. Das Volumen beläuft sich auf 548 Millionen Euro, gemessen am Apothekenverkaufspreis – von weiteren nicht rezeptpflichtigen Medikamenten ganz zu schweigen.
Ärzte dürfen entsprechende OTCs gemäß Paragraph 31 des V. Sozialgesetzbuchs nicht mehr zu Lasten gesetzlicher Krankenversicherungen aufschreiben – und zwar seit ziemlich genau elf Jahren. Von dieser Regel gibt es zwei Ausnahmen: Die Verordnung ist nach wie vor zulässig, falls Arzneimittel bei schwerwiegenden Erkrankungen als Therapiestandard gelten. Eine Aufstellung veröffentlicht der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als Anlage I zum Abschnitt F der Arzneimittel-Richtlinie. Darüber hinaus sind Verordnungen für Kinder bis zum vollendeten 12. Lebensjahr möglich, heißt es in Paragraph 34 SGB V. Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr mit Entwicklungsstörungen bekommen ebenfalls OTCs zu Lasten ihrer Kasse. Dieser Passus stößt Heilberuflern sauer auf – sie sprechen von einer Stigmatisierung Betroffener. Auch gehen Kosten für dringend benötigte Präparate schnell ins Geld. Bestes Beispiel sind jugendliche Patienten mit Neurodermitis. Studien zufolge stabilisiert eine regelmäßige Basispflege ihre Hautbarriere. Bei konsequenter Anwendung lassen sich Schübe verhindern oder zumindest hinauszögern. In einigen Fällen gelang es sogar, den Ausbruch der Krankheit zu vermeiden. Finanziell schwache Eltern können sich entsprechende Präparate oft nicht leisten; sie brechen die Behandlung ihrer Kinder ab. Kleine Patienten entwickeln stärkere Symptome und erhalten vom Arzt schließlich rezeptpflichtige Pharmaka. Um diese Problematik zu umgehen, lassen Dermatologen Kortikoide in Rezepturen einarbeiten, teils in geringer Menge, nur um die Erstattungsfähigkeit zu gewährleisten.
Grund genug für den Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH), Regierungsvertreter in die Pflicht zu nehmen. In einem bereits Mitte 2014 veröffentlichten Grundsatzpapier fordert der Verband, OTCs für Jugendliche bis 18 Jahren sowie für älteren Patienten mit Polymedikation wieder zu erstatten. Dies könnte auch über spezielle Tarife gesetzlicher Krankenversicherungen geschehen. Ähnliche Argumente kommen von Nordrhein-Westfalens Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Bündnis 90 / Die Grünen). Beim „OTC-Gipfel“ Ende 2014 erneuerte sie ihre Forderung hinsichtlich einer Kostenübernahme durch GKVen. Gerade multimorbide Senioren mit hohem Medikationsbedarf seien oft wirtschaftlich überfordert, so Steffens. Es geht aber nicht nur um finanzielle Aspekte, sondern um mögliche Risiken für Patienten.
Bestes Beispiel ist Paracetamol. Dumpingpreise und Supersparangebote im Handverkauf suggerieren manchem Kunden, das Pharmakon sei harmlos. Hier geht es nicht nur um Leberversagen. Bei höheren Dosen halten Forscher kardiovaskuläre Risiken für möglich. Doch was tun? Wissenschaftlich betrachtet verringern kleinere Gebinde Vergiftungen um bis zu 43 Prozent. Grund genug für das Bundesgesundheitsministerium, Packungsgrößen für OTCs auf zehn Gramm zu beschränken. Professor Dr. Kay Brune von der Uni Erlangen-Nürnberg sammelte weitere Argumente, um Paracetamol der Verschreibungspflicht zu unterstellen. Dazu einige Veröffentlichungen: Nahmen Frauen das Pharmakon während ihrer Schwangerschaft ein, kam es beim Nachwuchs häufiger zu Verhaltensauffälligkeiten. Als Basis zogen Wissenschaftler Daten von 64.322 dänischen Müttern und ihren Kindern heran. Jede zweite Studienteilnehmerin gab an, Paracetamol verwendet zu haben. Kinder hatten daraufhin ein um 37 Prozent höheres Risiko, am Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zu erkranken. Ähnliche Fakten lieferte eine norwegische Studie mit 48.631 Kindern. Alle erwähnten Untersuchungen sind nicht frei von Kritik. Dass kausale Zusammenhänge zwischen ADHS und dem Analgetikum bestehen, beweisen sie nicht. Vorsicht macht trotzdem Sinn. Damit Ärzte und Apotheker verlässliche Informationen über die Gesamtmedikation bekommen, wäre es auch wünschenswert, OTCs über die elektronische Gesundheitskarte zu erfassen. Warten wir es ab.