Die Umgebung zu laut, die Menschen zu viel, das Licht zu grell. Viele glauben, hochsensibel zu sein. Online-Tests mit suggestiven Fragebögen bestätigen den Eindruck. Dabei fehlen nicht nur klare Definitionen für Hochsensibilität, sondern auch objektive Tests.
Hochsensibilität liegt derzeit im Trend. Wer nach entsprechender Ratgeberliteratur sucht, findet mehr als 80 deutschsprachige Treffer. In sozialen Medien häufen sich Beiträge zu dem Thema, verschiedene Websites bieten Online-Selbtsttests mit Ergebnissen innerhalb weniger Minuten an. Momentan fehlen jedoch nicht nur klare Definitionen für das Persönlichkeitsmerkmal, sondern auch objektive Tests. Wo die Grenze zur Empfindsamkeit im normalen, etwas erhöhten Rahmen überschritten wird, lässt sich nicht eindeutig sagen. Skalen zeigen nicht, was auf neurophysiologischer Ebene tatsächlich abläuft. Manche Experten lehnen das Konzept deshalb ab.
Dabei hat der Bias Tradition: Nach einer Operation im Jahr 1987 litt die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron laut eigenen Angaben unter starken seelischen Befindlichkeitsstörungen. Eine Therapeutin fand bei ihr nichts auffälliges. Ob es weitere Untersuchungen oder gar Diagnosen gab, bleibt unklar. Aron ging jedoch davon aus, dass sich ihre Empfindungen grundlegend vom Ottonormalverbraucher unterscheiden. Kurz darauf gründete sie zusammen mit ihrem Mann ein neues Forschungsfeld, nämlich die Hochsensibilität. Bis heute zählt das Ehepaar Aron zu den Pionieren, obwohl schon ihre erste große Arbeit Anlass zur Kritik bietet. Basis waren sieben Serien von Interviews. Per Annonce suchten Forscher nach Probanden, die sich selbst als introvertiert, überstimuliert und überfordert bezeichneten. Sie rekrutierten 30 Psychologiestudenten und neun Künstler: eine Kohorte, die sich kaum als repräsentativer Bevölkerungsdurchschnitt bezeichnen lässt. Alle Teilnehmer wurden nach unterschiedlichen Lebensbereichen befragt, etwa zur Kindheit, zu Beziehungen, zur Weltanschauung oder zu Orten, an denen sie sich besonders wohlfühlten. Der Myers-Briggs-Typenindikator und ein Fragebogen zum Bindungsstil kamen hinzu. Auf dieser mehr als wackligen Basis entstand schließlich ein bis heute gültiger Fragebogen zur Hochsensibilität nach Elaine N. Aron. Die Forscherin hat ihr umstrittenes Tool selbst bei weiteren Interviews eingesetzt.
Deutschsprachige Versionen sind unter www.hochsensibel-test.de, www.zartbesaitet.net oder www.hochsensibilitaet.ch zu finden. Viele der Fragen sind sehr allgemein formuliert. Ein Großteil aller Teilnehmer würde die entsprechenden Punkte wahrscheinlich ankreuzen:
Wer bewusst oder unbewusst Teil der hochsensiblen Community sein möchte, wird den Fragebogen dementsprechend ausfüllen. Die Prophezeiung erfüllt sich quasi von selbst. Manche Tests wie www.zartbesaitet.net geben in der rechten Spalte suggestiv an, wo die richtigen Kreuzchen gesetzt werden sollten. Das Symbol (+++) steht den Autoren zufolge für einen Hinweis auf hochsensible Persönlichkeiten und ist auf den ersten Blick erkennbar. Ohne jegliche Verblindung verlieren Scores ihren Wert.
Nicht nur Laien arbeiten gern mit Fragebögen. Auch Wissenschaftler bedienen sich dieser Instrumente und fördern dabei wenig Erhellendes zu Tage. David E. Evans vom H. Lee Moffitt Cancer Center & Research Institute in Tampa, Florida, arbeitete mit einer Stichprobe von 297 Studierenden. Er und sein Team fanden außer den – wie sie schreiben – „negativen Affekten“ wie Angst, Ärger oder Traurigkeit auch die „ästhetische Sensitivität“, also die Feinfühligkeit in Bezug auf neue Sinnesreize. Karin Sobocko, Forscherin an der Carleton University im kanadischen Ottawa, bestätigt diese Erkenntnis. Sie arbeitete mit Daten von insgesamt 272 Probanden. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass nicht alle sensiblen Verarbeitungssensitivitäten mit unerwünschten Lebensereignissen verbunden sind“, schreibt die Expertin. Das heißt, Hochsensibilität auf Leiden zu reduzieren, ist zu kurz gesprungen. „Manche Menschen haben vielfältige Interessen und profitieren von neuen Sinneseindrücken.“ Es ist schwer, sich darunter etwas Konkretes vorzustellen.
Forscher untersuchen nicht nur die sensorische oder ästhetische Sensibilität. Margrit Schreier von der Jacobs University Bremen hält eine Assoziation zwischen Hochsensibilität und multipler Chemikaliensensibilität (MCS) für recht wahrscheinlich. Personen mit MCS reagieren auf geringe Mengen bestimmter Substanzen, etwa in der Umwelt, in Gebäudeinnenräumen oder in Kosmetika. Als typische Symptome nennt das Umweltbundesamt (UBA) Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Atemprobleme, Symptome des Magen-Darm-Traktes und weitere Störungen diverser Organsysteme. Basis von Schreiers Studie war eine Kohorte mit 113 Personen. Die Forscherin arbeitete sowohl Fragebögen zur Hochsensibilität (HSP Scale, Adult Temperament Questionnaire) als auch zur MCS (Adult Temperament Questionnaire) aus. Andere Experten sehen Zusammenhänge zwischen Hochsensibilität und Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). In seinem Buch „Zart besaitet – Selbstverständnis, Selbstachtung und Selbsthilfe für hochsensible Menschen“ beschreibt Georg Parlow, Vorsitzender des Vereins „zartbesaitet“ für hochsensible Menschen, weitere somatische Auffälligkeiten, nämlich überaus viele Allergien, häufigere Reaktionen auf Arzneistoffe und öfter auftretende Stresskrankheiten. Elaine Aron erklärt, Hochsensibilität sei nicht dasselbe wie Introversion, Neurotizismus oder Schüchternheit. Im Unterschied dazu spricht der deutsche Psychologe Jens Asendorpf bei Hochsensibilität sogar von einer Unterklasse des Neurotizismus. Einmal mehr zeigt sich, wie schwammig die Begrifflichkeiten sind.
Zu den Kritikern gehört Dr. Andreas Meißner, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus München. „Das Konzept erinnert stark an den Begriff des Burnout, der es ebenso ermöglicht, Schonraum zu erhalten, ohne als krank gelten zu müssen“, fasst der Experte zusammen. Durch neue – wie er es nennt – „Störungsetiketten“ werde indirekt die gewünschte Rücksichtnahme eingefordert. Meißner zufolge gebe es keine eindeutigen Forschungsergebnisse, um hochsensible Personen per se klar abzugrenzen. Von Fragebögen hält er wenig: „Zu vage und zu beliebig sind die zahlreich angeführten Eigenschaften, in denen sich mühelos die meisten Leser wiederfinden können.“ „Die Gruppe der Hochsensiblen mag es geben, eine neue Diagnose nach ICD oder DSM wird aus dem Begriff der Hochsensibilität jedoch nicht entstehen“, so Meißner. Vielmehr handele es sich um ein „wohl überflüssiges Störungskonzept“. Er verweist auf bestehende Möglichkeiten der Psychotherapie, um gezielt Angststörungen oder Depressionen zu therapieren, sollten diese Beschwerden eine zentrale Rolle einnehmen.
(A) bis (D): Austausch von Bildern glücklicher Partner gegen glücklicher Fremder: (A) Anteriore Inselregion, (B) somatosensorische Cortex, (C) ventrales tegmentales Areal (VTA), (D) dorsolateraler präfrontaler Cortex (DLPFC); (E) bis (F): Austausch von Bildern trauriger Partner gegen trauriger Fremder: (E) Inselrinde (Insula), (F): ventrales tegmentales Areal (VTA) © Bianca P. Acevedo et al., CC BY 3.0 Von neurobiologischer Seite kommt derzeit jedenfalls keine große Hilfe. Bianca P. Acevedo, Forscherin an der University of California, Santa Barbara, zeigte zusammen mit Elaine und Arthur Aron, dass es im Gehirn auffällige Vorgänge gibt: Gemeinsam untersuchten sie 18 Probanden mit Hochsensibilität laut klassischer Skala per funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT). Mit dem Verfahren lassen sich Durchblutungsänderungen von Hirnarealen und damit neuronale Aktivitäten sichtbar machen. Acevedo präsentierte ihren Studienteilnehmern unterschiedliche Portraits. Tauschte sie Aufnahmen fremder Personen gegen Fotos des Partners, wurden bestimmte Gehirnregionen (Pfeile; Bild links) stärker aktiviert als bei Personen ohne Hochsensibilität. Einge Jahre zuvor fand Jadzia Jagiellowicz von der Stony Brook University New York ebenfalls Hinweise im fMRT, die dafür sprachen, dass als hochensibel eingeschätzte Probanden Details und Feinheiten in Bildern anders bzw. stärker wahrnehmen als Probanden, die als nicht hochsensibel einstuft wurden. Jedoch liefern bislang weder Acevedo noch Jagiellowicz Argumente, die ein neues Krankheitsbild rechtfertigen würden.