Demenz bei Kindern – das geht? Ja: als Nebenwirkung einer fatalen Stoffwechselerkrankung. Eine Behandlung gibt es bis jetzt noch nicht, aber das könnte sich bald ändern.
Demenz gilt als Alterserkrankung, die meist erst im Alter von über 60 Jahren auftritt. In seltenen Fällen können aber auch schon Kinder und Jugendliche betroffen sein. Zu diesen kindlichen Demenzerkrankungen gehören die neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL oder CLN). Ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Wissenschaftlern der Universität Göttingen und der Universität Zürich (UZH) hat nun die Prozesse genauer untersucht, die an der Entstehung einer bestimmten Unterform der Erkrankung beteiligt sind. Die Ergebnisse könnten ein erster Schritt für die Entwicklung neuer Behandlungsansätze für diese Form der Demenz sein.
Bei CLN handelt es sich um eine Gruppe seltener, genetisch bedingter Stoffwechselerkrankungen, die zu schweren Veränderungen im Gehirn führen und bisher nicht heilbar sind. Etwa eins von 30.000 Neugeborenen ist betroffen. „Insgesamt gibt es 13 verschiedene Unterformen, die sich in der Art des genetischen Defekts unterscheiden“, erläutert Prof. Robert Steinfeld. Er ist Professor für Pädiatrische Neurologie an der Universität Zürich und einer der Seniorautoren der Studie.
„Je nach Unterform entwickeln die Betroffenen bereits kurz nach der Geburt, in der frühen Kindheit oder im jungen Erwachsenenalter Auffälligkeiten. Sie bleiben bei der sprachlichen, motorischen und kognitiven Entwicklung zurück, haben epileptische Anfälle und leiden aufgrund einer Netzhautdegeneration unter zunehmender Sehschwäche, die mit der Zeit zur vollständigen Erblindung führen kann.“ Art und Schwere der Symptome können sich je nach Krankheitstyp unterscheiden. Die Krankheitsverläufe sind in der Regel progredient und die Lebenserwartung ist deutlich verkürzt. Es kommt zu einem fortschreitenden kognitiven Abbau und die meisten Betroffenen versterben im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter.
Alle CLN-Formen weisen in den Nervenzellen Speichermaterial auf, das den Namen Ceroid-Lipofuszine trägt. Ob dieses Speichermaterial ursächlich mit dem Untergang von Nervenzellen in Verbindung steht, oder eine Begleiterscheinung der Neurodegeneration darstellt, ist derzeit unklar. Ein Forscherteam um Robert Steinfeld und Ralph Krätzner von der Universität Zürich und der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) hat nun die Ursachen der finnischen spätinfantilen neuronalen Ceroid-Lipofuszinose, einer bestimmten Unterform der Erkrankung, genauer untersucht. Ihre Ergebnisse sind kürzlich in der Fachzeitschrift Science Advances erschienen. „Kinder mit dieser Variante, bei der eine Mutation im CLN5-Gen vorliegt, werden ab einem Alter von etwa vier Jahren auffällig und sterben im Teenager-Alter“, erläutert Steinfeld.
Bisher war kaum etwas darüber bekannt, wie sich die Mutationen auf das CLN5-Protein auswirken. „In der neuen Studie ist es uns nun gelungen, ein tiefergehendes strukturbiologisches und biochemisches Verständnis von CLN5 zu gewinnen“, berichtet Steinfeld. So gelang es dem Forscherteam, in einer Zellkultur hergestelltes CLN5-Protein zu kristallisieren und auf diese Weise seine dreidimensionale Struktur zu bestimmen. Mithilfe der Strukturdaten fanden die Wissenschaftler zudem heraus, dass es sich bei dem Protein um ein Enzym handelt, das Palmitatreste von Proteinen abspaltet. Bei Varianten des CLN5-Proteins, in die die krankheitsauslösende Mutation eingefügt worden war, war die Aktivität des Enzyms stark vermindert.
„Unsere Ergebnisse verdeutlichen, dass Prozesse der Proteinlipidierung und der De-Palmitoylierung bei der Entstehung der Erkrankung eine wichtige Rolle spielen“, erläutert der Neurowissenschaftler. „Eine Fehlfunktion des Enzyms kann offenbar sowohl frühkindliche als auch spät einsetzende neurodegenerative Krankheitsprozesse verursachen, die zum Funktionsverlust und zum Untergang von Nervenzellen führen.“
Eine bestimmte CLN5-Variante (p.Asn320Ser) ist mit einer familiären Form der Alzheimer-Erkrankung assoziiert. Möglicherweise führt die Funktionseinschränkung von CLN5 zu einer verstärkten Palmitylierung von zellulären Proteinen. „Ein möglicher Kandidat ist das Enzym BACE1, das in palmitylierter Form verstärkt Amyloid-Precursor Protein (APP) in Beta-Amyloid spalten kann“, erläutert Robert Steinfeld. „Da das Auftreten von Beta-Amyloid mit der Alzheimer-Erkrankung verbunden ist, kann somit eine verminderte De-Palmitylierung den neurodegenerativen Prozess begünstigen.“
Die Forscher sehen die neuen Erkenntnisse als Grundlage für weitere Studien, die aufklären sollen, durch welche Mechanismen die CLN5-Mutation im Einzelnen zu den neuronalen Abbauprozessen führt. „Dazu gehört zum Beispiel, herauszufinden, welche Proteine durch das Enzym tatsächlich depalmitoyliert werden“, sagt der Neurologe. „Ein nächster wichtiger Schritt wäre dann, mithilfe dieser Erkenntnisse neue Therapien für CLN5 und weitere CLN-Formen zu entwickeln.“
Für eine CLN-Variante, nämlich CLN2, steht bereits seit Mai 2017 eine medikamentöse Therapie zur Verfügung, die das Fortschreiten der Symptome bei etwa zwei Drittel der Patienten zumindest verzögern kann. Es handelt sich um eine Enzymersatztherapie mit Cerliponase alfa, bei der die Patienten als Ersatz für das fehlende Enzym ein entsprechendes biotechnisch hergestelltes Enzym erhalten. Die Therapie ist jedoch aufwändig und kann für die Patienten belastend sein. Die Substanz muss alle 14 Tage mit einem Katheter in den Liquorraum eingebracht werden und es kann zu Nebenwirkungen wie Fieber, Erbrechen oder Krämpfen und zu Entzündungen an der Zugangsstelle kommen. Auch die Kosten sind sehr hoch – sie liegen bei etwa 750.000 Euro pro Jahr. Die Therapie ist von der EU-Kommission zugelassen und die Kosten werden in Deutschland bei Patienten, die die Indikationskriterien für diese Behandlung erfüllen, von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Analog dazu könnte auch bei CLN5 das fehlende Enzym biotechnisch hergestellt und in den Liquorraum eingebracht werden. „Das könnte dazu beitragen, die Erkrankung zu verzögern. Allerdings führt es nicht zu einer Heilung“, sagt Robert Steinfeld. „Aus meiner Sicht ist daher eine Gentherapie der aussichtsreichere Behandlungsansatz. Diese gibt es zwar noch nicht, es gibt aber bereits vielversprechende Entwicklungen.“
Derzeit bleiben vielen Patienten und ihren Familien nur Behandlungsansätze, die auf eine Linderung der Symptome und eine Verbesserung der Lebensqualität abzielen. Dazu gehören eine regelmäßige psychologische Begleitung, die Linderung von Schmerzen und palliativmedizinische Ansätze. Steinfeld ist jedoch optimistisch, dass in 10 bis 20 Jahren eine effektive Therapie für die neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen zur Verfügung stehen wird. „Unsere neue Studie ist dabei zumindest ein kleiner Schritt in die richtige Richtung“, so der Neurowissenschaftler.
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