Bisher nahm die Forschung an, die maximale menschliche Lebenszeit sei auf 115 Jahre begrenzt. Israelische Forscher sind jedoch anderer Meinung. Laut ihnen könnten Menschen in Zukunft deutlich älter werden. Ansätze, um das Leben künstlich zu verlängern, gibt es genügend.
Die durchschnittliche Lebenserwartung hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts etwa verdoppelt. Babys, die im Jahr 1870 geboren wurden, beispielsweise wurden durchschnittlich nur 36 bis 38 Jahre alt. Säuglinge, die 2010 das Licht der Welt erblickten, dürfen sich bereits auf durchschnittlich 78 bis 83 Lebensjahre freuen. Unter anderem die Entdeckung der Antibiotika, Impfungen und verbesserte Hygienemaßnahmen haben zu dieser höheren, durchschnittlichen Lebenserwartung beigetragen. Die durchschnittliche Lebenserwartung darf jedoch nicht mit der maximalen Lebensspanne verwechselt werden. „Unsere Daten geben starken Anlass dazu, dass sie [die maximale Lebensspanne] bereits erreicht wurde und dass dies in den 1990ern geschehen ist“, so Jan Vijg, Professor und Lehrstuhlinhaber des Department of Genetics vom Albert Einstein College of Medicine in New York [Paywall]. Damals, am 04.08.1997, starb die Französin Jeanne Calment im Alter von 122 Jahren. Seitdem ist kein Mensch mehr älter geworden.
Für ihre Studie hatten die Wissenschaftler um Jan Vijg Daten aus der Human Mortality Database zur menschlichen Sterblichkeit aus mehr als 40 Ländern ausgewertet. Dabei stellten sie zum einem fest, dass in den betrachteten Ländern seit 1900 immer mehr Menschen 70 Jahre oder älter wurden. Die durchschnittliche Lebenserwartung erhöhte sich dabei mit dem Kalenderjahr der Geburt kontinuierlich. Aber als die Wissenschaftler auf die noch verbleibende Lebenserwartung der Menschen über 100 schauten, fanden sie, dass zwar immer mehr Menschen 100 Jahre alt werden, danach die Überlebensrate – unabhängig von dem Jahr der Geburt – jedoch rapide abfällt. „Dieses Ergebnis weist auf [...] eine möglicherweise begrenzte menschliche Lebensspanne hin“, so Jan Vijg in einer Pressemitteilung. Laut den Autoren soll die durchschnittliche maximale Lebensdauer bei 115 Jahren liegen. „Weitere Fortschritte im Kampf gegen Infektionskrankheiten und chronischen Krankheiten können die durchschnittliche Lebenserwartung erhöhen, jedoch nicht die maximale Lebensspanne“ ist Jan Vijg überzeugt. Den Berechnungen der Wissenschaftler zufolge liegt die Chance, dass eine Person in irgendeinem Jahr älter wird als 125 Jahre, bei weniger als eins zu 10.000.
Anderer Meinung sind jedoch die israelischen Forscher um Gideon Rechavi vom Chaim Sheba Medical Center. Die Wissenschaftler hatten Daten des Centers for Disease Control and Prevention und der Human Mortality Database zur menschlichen Sterblichkeit in den Jahren 1900 bis 2010 sowie verschiedene Tierversuche zu dem Thema ausgewertet. Dabei fiel ihnen auf, dass die durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb eines Jahrhunderts um 72 % gestiegen ist, die maximale Lebensspanne dagegen nur um 18 %. Grund der verbesserten durchschnittlichen Lebenserwartung sei die Einführung der Antibiotika und ihr großflächiger Einsatz während des Zweiten Weltkriegs sowie Immunisierungen gewesen. Diese medizinischen Fortschritte wirkten sich auf die Todesursachen der Menschen aus: Starben um 1900 die meisten Menschen noch an Infektionskrankheiten wie Pneumonie, Virusgrippe oder Tuberkulose, war im Jahr 1950 dagegen bei acht von zehn Menschen ein altersbedingtes Leiden (Herzerkrankungen, Krebs) der Todesgrund. Vor altersbedingten Krankheiten oder dem Älterwerden konnten die Fortschritte der Medizin nicht bewahren. Zwischen 1950 und 2010 sei der Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung und maximalen Lebensspanne daher ähnlich gewesen (13 % vs. 8 %). Allerdings wurde in den letzten 35 Jahren, so die Studienautoren, intensiv an Alterungsprozessen geforscht – mit bemerkenswerten Ergebnissen. Nach der Auswertung Hunderter von Interventionen, die bei verschiedenen Organismen wie Hefen, Fliegen, Würmern und Nagetieren durchgeführt wurden, sind Gideon Rechavi und Team der Meinung: werden die biologischen/genetischen Ursachen des Alterns angesprochen, ist es auch möglich, die derzeitige maximale Lebensspanne zu erhöhen. Denn mit einer veränderten Ernährung, gentechnischen Eingriffe oder einer medikamentösen Behandlung sei es bei den Organismen möglich gewesen, die maximale Lebensspanne um bis zu 30 % zu erhöhen.
Viele der Theorien gehen davon aus, dass Signalwege, die für die jugendliche Entwicklung wichtig sind, auch später im Leben noch aktiv sind. mTor (mechanistic Target of Rapamycin) beispielsweise reguliert die Proliferation, Differenzierung und Vermehrung von Zellen. Im Kindesalter ist es, so Studienautor Gideon Rechavi, wichtig für das Wachstum. Die höhere Aktivität im Erwachsenenalter jedoch führt zu altersbedingten Krankheiten. Die Serin/Threonin-Kinase mTOR kann jedoch durch das immunsuppressiv wirkende Rapamycin blockiert werden. Mäuse, die den Wirkstoff in einer Konzentration von etwa 2 mg pro Kilogramm und Tag erhalten hatten, lebten durchschnittlich 9 % bis 18 % länger. Die maximale Lebensspanne erhöhte sich um 9 % bis 16 %.
Ebenfalls positiv auf die maximale Lebensspanne soll sich, so die Autoren um Gideon Rechavi, eine Kalorienrestriktion, also eine Beschränkung der zugeführten Kalorien, auswirken. Als Beispiel führen die Studienautoren die Bewohner von Okinawa, einer japanischen Inselgruppe im Pazifik, an. Dort würden die Menschen etwa 11 % weniger Kalorien zu sich nehmen – zumindest die, die sich noch traditionell und nicht nach westlichem Vorbild ernähren. Durch diese kalorische Restriktion leiden ältere Okinawas seltener an Krankheiten und werden im Vergleich zu Japanern und Amerikanern älter. Die Kalorienrestriktion erhöht dabei sowohl die durchschnittliche als auch maximale Lebensspanne, wobei die Auswirkung auf die maximale Lebensspanne größer ist.
Aber auch bestimmte Genmutationen können das Leben um mehrere Jahre verlängern. Erst im November 2017 beschrieben Forscher um Douglas Vaughan von der Feinberg School of Medicine in Chicago, dass eine Mutation auf dem Gen SERPINE1 die Lebenserwartung des Trägers im Vergleich zu anderen Menschen um durchschnittlich etwa zehn Jahre verlängert. SERPINE 1 enthält die Information für den Plasminogen-Aktivator-Inhibitor Typ 1 (PAI-1), einer der wichtigsten Inhibitoren der Fibrinolyse. PAI-1 gehört jedoch auch zu den Proteinen, die die Verkürzung der Chromosomenenden (Telomere) fördern und damit Altersvorgänge beschleunigen. Entdeckt wurde diese Genvariante bereits 1991 bei Angehörigen der amischen Bevölkerung in der Nähe von Berne/Indiana. Damals interessierten sich die Wissenschaftler dafür, wie sich die Mutation in SERPINE1 auf die Blutgerinnung auswirkt. Gut 25 Jahre später haben Douglas Vaughan und sein Team nun die Auswirkung auf die Lebensdauer untersucht. Dafür haben die Wissenschaftler zuerst die Länge der Telomere gemessen. Sie entdeckten, dass die Chromosomen der Amischen, die eine Mutation im SERPINE1-Gen aufwiesen, 10 % länger waren als die der Amischen ohne diese Mutation. Die Träger hatten eine etwa 30 % niedrigere Insulinkonzentration im Blut, litten seltener an Diabetes und lebten durchschnittlich 85 Jahre. Zum Vergleich: Amische ohne diese Mutation in SERPINE1 wurden durchschnittlich 75 Jahre alt. Die Wissenschaftler vermuten, dass auch Medikamente, die PAI1 inhibieren, einen ähnlich positiven Effekt auf die Lebensspanne wie die Mutation im SERPINE1-Gen haben könnten. Eines dieser Langlebigkeits-Medikamente, TM5614, hat sich bereits in einer Phase-1-Studie als sicher erwiesen und wird derzeit in einer Phase-2-Studie untersucht.
Assistenzprofessor Dr. Hamid Mirzaei © UT Southwestern Ebenfalls ein lebensverlängerndes Potenzial soll der Vasodilatator Hydralazin haben. Fadenwürmer (C. elegans), die mit dem Blutdrucksenker behandelt worden waren, lebten laut den Wissenschaftlern um Hamid Mirzaei vom Southwestern Medical Center in Dallas [Paywall] 20 bis 23 Tage anstatt 15 bis 18 Tage. Dies bedeutet eine Verlängerung der Lebensspanne um 25 %. Die lebensverlängernde Wirkung kommt laut Hamid Mirzaei durch die Aktivierung des NRF2 (Nuclear factor erythroid-derived 2-like 2) bzw. SKN-1-Signalwegs zustande. NRF2 ist ein Transkriptionsfaktor, der menschliche Zellen vor oxidativen Stress schützt. Im Alter könne sich der menschliche Körper jedoch immer schlechter vor schädlichen Sauerstoffradikalen schützen, so Hamid Mirzaei. Fadenwürmer dagegen schützen sich mit dem Transkriptionsfaktor SKN-1 (skinhead-1), der mit NRF2 verwandt ist, vor oxidativem Stress. „Wir haben herausgefunden, dass der Wirkstoff die Lebensspanne von Würmern mindestens genauso gut verlängert wie andere potenzielle Anti-Aging-Verbindungen wie Curcumin und Metformin“, sagt Hamid Mirzaei. Seine protektive Wirkung scheint Hydralazin besonders im Gehirn zu entfalten. So überlebten Fadenwürmer, die vorher mit Hydralazin behandelt worden waren, die Behandlung mit Rotenon. Dies ist ein Insektizid, das normalerweise zu einem Absterben von dopaminergen Neuronen führt – ein klassisches Merkmals des Morbus Parkinson. Die Hoffnung ist daher, Hydralazin insbesondere bei degenerativen Alterserkrankungen wie Morbus Alzheimer oder Morbus Parkinson einzusetzen.
Im Jahr 2000 machte der amerikanische Wissenschaftler Jan van Deursen[Paywall] eine interessante Entdeckung. Die von ihm gezüchteten transgenen Mäuse entwickelten nicht – wie erwartet – einen Tumor. Stattdessen begann im Alter von drei Monaten ihr Haar schütter zu werden und sie litten am grauen Star. Nach Jahren fand Jan van Deursen den Grund: Diese unnatürlich schnelle Alterung lag daran, dass der Körper der Mäuse viele Zellen enthielt, die sich nicht mehr teilten, die aber auch nicht starben. Wurden diese seneszenten Zellen abgetötet, wurde auch das Auftreten altersbedingter Krankheiten hinausgezögert. Und nicht nur das: in einer 2016 erschienenen Publikation konnte Jan van Deursen [Paywall] zeigen, dass das Eliminieren alternder Zellen den Verfall der Organe (z. B. Herz, Niere) verzögert und die durchschnittliche Lebensspanne um 25 % erhöht. Mittlerweile sind sehr viele Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Allein 2017 erschienen diverse Artikel, laut denen das Eliminieren seneszenter Zellen bei Mäusen die Leistungsfähigkeit, die Felldichte sowie Nierenfunktion wiederherstellen soll. Bei idiopathischer Lungenfibrose verbesserte sich laut einer Publikation das Krankheitsbild und Knorpelschäden konnten laut einer anderen Veröffentlichung[Paywall] repariert werden. Insgesamt 14 Wirkstoffe, die seneszente Zellen abtöten, sogenannte Senolytika, sind bis heute beschrieben worden. Darunter auch Dasatinib, welches u. a. zur Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie. Problematisch ist allerdings, dass jedes Senolytikum nur eine bestimmte Sorte von seneszenten Zellen eliminiert – man bräuchte also viele verschiedene Wirkstoffe, um sich vor den diversen altersbedingten Krankheiten zu schützen. Allerdings, so die Hoffnung, sollen die Wirkstoffe nur gelegentlich– beispielsweise einmal im Jahr – eingenommen werden müssen. Das Medikament wäre dann nur kurze Zeit im Körper, wodurch sich auch die möglichen unerwünschten Wirkungen reduzieren würden.